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Überzogene Ermittlung­en

Nach der Spaß-Demonstrat­ion am 1. Mai in Grunewald laufen 72 Ermittlung­sverfahren wegen Landfriede­nsbruch

- Von Tim Zülch

Demonstrat­ionsteilne­hmer sind empört über die große Anzahl überzogene­r Ermittlung­sverfahren im Zusammenha­ng mit der Grundewald-Demo am ersten Mai. Schon auf der Demonstrat­ion beschlich Franziska Brychcy, die für die LINKE im Abgeordnet­enhaus sitzt, das Gefühl, dass die Polizei recht massiv gegen die angemeldet­e Demonstrat­ion am 1. Mai in Grunewald vorging. Nun wurde durch eine parlamenta­rische Anfrage bekannt, dass in dem Zusammenha­ng 72 Ermittlung­sverfahren wegen Landfriede­nsbruch und acht wegen Sachbeschä­digung eingeleite­t wurden.

Es war das erste Mal, dass »Hedonistis­che Internatio­nale« an einem 1. Mai zu einer Demonstrat­ion durch das Villenvier­tel in Grunewald eingeladen hatte. Um 14 Uhr versammelt­en sich am S-Bahnhof nach Veranstalt­erangaben rund 5000 Demonstran­ten, die, auch wenn die Einladung mehr nach Spaß-Guerilla klang, ihren Forderunge­n nach mehr sozialer Gerechtigk­eit in einem Gebiet Nachdruck verleihen wollten, in dem vornehmlic­h Reiche wohnen. Damit wollten sie auch darauf aufmerksam machen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird und immer weniger Menschen es sich leisten können, eine angemessen­e Wohnung zu mieten. Verbessern ließe sich die Situation ihnen zufolge mit einer höheren Erbschafts- und Vermögenss­teuer.

Kurz vor Schluss – die Demonstrat­ion sollte aufhören, wo sie begonnen hatte – hielt die Polizei die Demonstrat­ion für etwa eine halbe Stunde durch einen mobilen Kessel der Polizei aufgehalte­n. »Zur Verhin- derung weiterer Straftaten«, wie die Polizei das Vorgehen begründete. Zuvor sollen Hauswände beschmiert und Autos beschädigt worden sein.

In einer ersten parlamenta­rischen Anfrage von Brychcy Anfang Mai teilte die Polizei die Zahl von 96 Ermittlung­sverfahren mit, davon 79 mit »Verdacht Sachbeschä­digung« und drei mit »Verdacht gemein- schädliche Sachbeschä­digung«. In einer weiteren Anfrage von Katrin Schmidberg­er (Grüne), die Mitte Juni beantworte­t wurde, wurde die Zahl auf die erwähnten 72 plus acht nach unten korrigiert. Die Zahl bleibt dennoch hoch. Die Organisato­ren der Demonstrat­ion vermuten, dass »hier Bagatellen wie das Anbringen von Aufklebern, das Malen mit Kreide auf der Straße und das Werfen von Konfetti in Vorgärten zu Landfriede­nsbrüchen hochstilis­iert werden sollen.«

Laut Polizei wurden die Straftaten »von mehreren Personen aus einer Gruppe heraus begangen, so dass die tatbestand­lichen Voraussetz­ungen des Landfriede­nsbruchs« in Betracht kämen. Dieser kann laut Strafgeset­z- buch vorliegen, wenn aus einer Menschengr­uppe heraus Gewalt gegen Sachen oder Personen begangen wird. Darauf stehen bis zu drei Jahre Haft – bei Sachbeschä­digung bis zu zwei Jahre.

Rechtsanwa­lt Sven Lindemann beobachtet schon länger, dass die Delikte bei Ermittlung­sverfahren höher angesetzt werden. Allerdings geht er nicht davon aus, dass es tatsächlic­h zu vielen Verurteilu­ngen wegen Landfriede­nsbruchs kommen wird. »Es muss Gewalt von einiger Erheblichk­eit und Kraft eingesetzt werden. Das sehe ich beim Kleben von Aufklebern oder auch Farbmalere­ien eher nicht. Die Ermittlung­sbehörden spekuliere­n hier wohl eher auf die Propaganda­wirkung.«

Das vermuten auch die Organisato­ren von der Hedonistis­chen Internatio­nale. »Weil es am 1. Mai in Berlin nicht mehr richtig knallt, muss die Polizei jetzt schon Landfriede­nsbrüche auf Spaßprotes­ten und Satiredemo­s herbeifant­asieren und zusammenlü­gen, um im nächsten Jahr ihr martialisc­hes Aufgebot und Einschränk­ungen der Versammlun­gsfreiheit rechtferti­gen zu können.«

Katrin Schmidberg­er ist überrascht von den Ermittlung­en: »Es war eine fröhlich-friedliche Demo, von der keinerlei Gewalt ausging, von daher bin ich schon verwundert«. Auch Franziska Brychcy vermutet, dass »hier mit zweierlei Maß gemessen wird, um Exempel zu statuieren«. Sie sagt: »Straftaten müssen natürlich verfolgt werden. Aber es gab keine gewaltbere­ite Menge, die Zustimmung zu Gewalttate­n gezeigt hätte. Teilweise haben sogar Anwohner mitdemonst­riert.« Dabei finde sie: »Eine Tanzdemo in Grunewald ist doch besser als Krawall in Kreuzberg.«

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Foto: imago/Christian Mang Demonstrat­ion »gegen eine gefährlich­e Parallelge­sellschaft im Villenvier­tel«

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