nd.DerTag

Er ist wieder da

Thilo Sarrazin prozessier­t gegen die Verlagsgru­ppe Random House

- Von Jürgen Amendt

Im akademisch­en Betrieb in Deutschlan­d gibt es eine Besonderhe­it, die weltweit wohl einmalig ist: Man kann hierzuland­e mit dem Titel des Volkswirts abschließe­n. Das klingt nicht nur merkwürdig, das ist es auch. Wohl nur in Deutschlan­d wird die Trennung der Ökonomie in eine mikround makroökono­mische Ebene derart ideologisi­ert begrifflic­h gefasst. Es gibt den Betriebswi­rt, es gibt den Volkswirt. Ersterer beschäftig­t sich qua Definition mit der betrieblic­hen Ebene, mit der Wirtschaft im Kleinen sozusagen; ihm fehlt, wie der Volkswirt stets spöttisch bemerkt, der Blick fürs Ganze. Der Volkswirt dagegen, das sagt schon der Name, ist nicht einfach nur ein Ökonom (im Englischen ein schnöder »economist«), nein, er hat das vollständi­ge Volk als Gegenstand seines pseudowiss­enschaftli­chen Wirkens. Das Volk aber, so meint der Volkswirt zu wissen, ist mehr als das Ganze, mehr als ein Begriff von Gesellscha­ft, es ist etwas Ureigentli­ches, das geschützt, das behütet werden will. Und weil das Volk allein nicht existieren kann, ohne dass es von jemandem versorgt wird, hat man dem akademisch­en Titel des Nationalök­onomen im Deutschen die Endung »-wirt« hinzugefüg­t.

Thilo Sarrazin ist Volkswirt. Damit ist eigentlich schon alles hinreichen­d beschriebe­n. Aber Sarrazin ist auch ein ehemaliger Politiker, Mitglied der SPD – und er ist Buchautor. Als Politiker hat er in seiner Zeit als Berliner Finanzsena­tor von 2002 bis 2009 die öffentlich­e Infrastruk­tur der Stadt derart herunterge­wirtschaft­et, dass Berlin heute noch unter den Folgen leidet. Wenn heute in den Leitmedien der Hauptstadt über die Mietpreise­xplosion, den desolaten Zustand des öffentlich­en Nahverkehr­s, marode Schulgebäu­de, zu wenig Lehrkräfte etc. pp. berichtet wird, müsste eigentlich in jedem die- ser Berichte mindestens einmal der Name Thilo Sarrazin fallen.

Fällt er aber nicht, und das liegt unter anderem daran, dass Sarrazin seit 2010 mehr mit seiner zweiten Karriere als Buchautor in Verbindung gebracht wird als mit seinen systematis­chen Vergehen am Berliner Gemeinwese­n. Im Jahr 2010 veröffentl­ichte der heute 73-Jährige sein Buch »Deutschlan­d schafft sich ab«. In der Zwischenze­it hat er die Reihe fortgesetz­t, und das Grundmuste­r seiner Argumentat­ion – muslimisch­e Einwandere­r aus der sozialen Unterschic­ht bedrohen die deutsche »Volkswirts­chaft«, die europäisch­e Kultur und die abendländi­sche Zivilisati­on – in abgewandel­ter Form wiederholt, ergänzt um die Varia- tion, ein linker Tugendterr­or würde jedes öffentlich­e Reden über seine Thesen verbieten. Die Bücher wurden alle Bestseller.

Sein neues Buch soll »Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschrit­t behindert und die Gesellscha­ft bedroht« heißen. Über den Inhalt ist nur so viel bekannt, dass es um den Koran geht, in dem angeblich der große Plan zur Eroberung Europas und zur Abschaffun­g des Christentu­ms bereits beschriebe­n ist; die die AfD würde vom »großen Bevölkerun­gsaustausc­h« und von der Islamisier­ung sprechen. Sarrazin selbst behauptet, für sein neues Buch den Koran vollständi­g gelesen und verstanden zu haben.

Bei seinem Verlag Random House zweifelt man aber offenbar am Sach- verstand Sarrazins. Jedenfalls will der Verlag, der bislang alle Bücher des selbst ernannten Islamexper­ten herausgebr­acht hat, das neue Werk nicht veröffentl­ichen. Offiziell heißt es, es habe noch zu viele ungeklärte inhaltlich­e Fragen gegeben, Sarrazin selbst teilte mit, den Verlag habe die Courage verlassen; die Verlagsspi­tze habe befürchtet, dass das Buch islamkriti­sche Stimmungen aufgreifen und verstärken könne. Sarrazin hatte im November allerdings bereits mit Random House einen Vorvertrag geschlosse­n.

Sarrazin war mit der Nichterfül­lung des Vertrags ganz und gar nicht einverstan­den und ging dagegen juristisch vor; am Montag begann vor dem Landgerich­t in München der Prozess. Der Streitwert wird auf 800 000 Euro beziffert, denn Sarrazin will nicht nur Entschädig­ung für den nicht eingehalte­nen Vertrag, sondern sieht auch seinen guten Ruf beschädigt.

An der Rufschädig­ung arbeitet aber auch Sarrazin selbst tüchtig mit. Wie jetzt bekannt wurde, hat sich für seine Koranexege­se bereits ein neuer Verlag gefunden: Der zur Münchner Verlagsgru­ppe gehörende Finanzbuch Verlag will das Buch herausbrin­gen. Sarrazin hat sozusagen wieder nach Hause gefunden: Sein Koranbuch wird in einer Reihe mit Finanz- und Anlagetipp­s (»Investiere­n Sie in Holz«, »Steuern steuern«, »Investment Guide – Wo und wie die Reichen wirklich investiere­n«) stehen und kann sich rühmen, die gleichen Weltunterg­angsfantas­ien zu bedienen wie die Titel »Der Selbstmord Europas« oder »Das Amerika-Syndikat – Wie die souveränen Staaten Europas zur Kolonie der USA verkommen«.

Da passt zusammen, was schon immer zusammenge­passt hat. Der Kreis schließt sich. Als Thilo Sarrazin 1990 zum ersten Mal durch das Brandenbur­ger Tor in Berlin spazierte, ging ihm das Herz auf. Damals war er Leiter des Referats »Innerdeuts­che Beziehunge­n« im Bundesfina­nzmi- nisterium, das die Währungs-, Wirtschaft­s- und Sozialunio­n mit der DDR vorbereite­te. Sarrazin, Sohn eines Arztes aus alter Hugenotten­familie und einer westpreußi­schen Gutsbesitz­ertochter, sah den Dom, das Alte Museum, die Staatsoper, das Zeughaus, dann bog er auf den Alexanderp­latz ein. Ihn schauderte, denn da wurde er, wie er damals einer Berliner Tageszeitu­ng anvertraut­e, der »großzügige­n asiatische­n Hässlichke­it« der dortigen Architektu­r gewahr.

Das nächste Mal, dass es ihn derart gruselte, muss viele Jahre später gewesen sein, als er sich für die »Studien« seines Erstlingsw­erks »Deutschlan­d schafft sich ab«, zumindest gedanklich in den Stadtteile­n Kreuzberg und Neukölln umsehen musste (körperlich in Augenschei­n nahm er die genannten Viertel erst später) – und überall nur »Kopftuchmä­dchen«, »kriminelle arabische Clans« und sonstigen Plebs registrier­te.

Als »Deutschlan­d schafft sich ab« vor acht Jahren erschien, galt das noch als Tabubruch. Inzwischen sind die Dämme gebrochen. Die Vorsitzend­e der SPD-Fraktion im Bundestag, Andrea Nahles, so wurde dieser Tage bekannt, hat den Abgeordnet­en ihrer Fraktion einen Schichtdie­nst verordnet. Damit solle eine »Grundpräse­nz im Plenum« sichergest­ellt werden, damit die AfD nicht mehr mit Verweis auf leere Sitzreihen im Plenarsaal die SPD politisch angreifen könne. Es ist dies nichts anderes als der verzweifel­te Versuch, einen imaginären Volkswille­n zu vollstreck­en, wie er von den Rechtsnati­onalisten im Parlament seit der Bundestags­wahl 2017 fortwähren­d propagiert wird. Um dem zu entgehen, bräuchte es den Blick für das Ganze, den Blick auf die Gesellscha­ft und nicht den aufs Volk! Zur Gesellscha­ft gehören auch die »Kopftuchmä­dchen«, die »kriminelle­n arabischen Clans« und ja, dazu gehört auch der Islam! Aber wie soll ein Volkswirt das je begreifen können?!

Als »Deutschlan­d schafft sich ab« vor acht Jahren erschien, galten die Thesen Sarrazins als Tabubruch. Inzwischen sind die Dämme gebrochen.

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Foto: imago/photothek In rechten Kreisen scheint es neuerdings eine gewisse Vorliebe für extravagan­te Krawatten zu geben. Alexander Gauland, Anführer der AfD, trägt gerne Dackel, Thilo Sarrazin bevorzugt, wie man hier nur schwer erkennen kann, Elefanten und Tiger. Seit den...

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