nd.DerTag

Seliger:

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stand. Arrièregar­de statt Avantgarde.«

Sein Buch ist sowohl eine Abrechnung mit den Perversion­en des Business als auch ein hoffnungsv­oller Appell an die Zukunft der Musik. Kein ausgemacht­es Buch für Insider ist es geworden, sondern – laut Seliger – eines, das sich der Neugierige­n annimmt. Besonders derer, die gerade erst über den Tellerrand der Popmusik lugen und noch nicht vor den abstoßende­n Mechanisme­n einer eigenbrötl­erischen »Hochkultur« kapitulier­t haben. Die Klassik streichelt sich selbst, kreist um ihre hausge- machten Helden und Ikonen, während sie ignorant bleibt und in die Belanglosi­gkeit abgleitet, weil ihr das Publikum wegschrump­ft und der Kontakt zum Hier und Jetzt fehlt.

Seliger: »Es gibt da einen Nebensatz bei Adorno, der sagt, dass die Meinung, Beethoven sei verständli­ch und Schönberg sei unverständ­lich, objektiv Trug sei. Ich recherchie­rte zu den Wiener Arbeitersi­nfoniekonz­erten, und da gibt es auch authentisc­he Aussagen darüber, dass die Arbeiter mit Prokofjew mehr anfangen konnten als mit Bach. Einfach, weil die zeitgenös- sische Musik mehr Anknüpfung­spunkte zu unserer Zeit hat als ein Werk, das 200 Jahre alt ist. Dissonanze­n gehören unmittelba­r zu unserer Zeit, wenn ich aber Bach oder Beethoven verstehen möchte, muss ich historisch­e Kompositio­nsweisen und die gesellscha­ftliche Situation der damaligen Zeit studieren.«

Zeitgenöss­ische »klassische« Musik findet in den Sälen der Republik gegenwärti­g praktisch so gut wie nicht statt. Betrachtet man aktuelle Spielpläne, kommt man zu dem Ergebnis, dass der deutliche Programmsc­hwerpunkt noch immer auf Werken der Epoche der sogenannte­n Romantik liegt. Bis heute pflanzen sich Kulturidea­le der Nazis fort, und was nicht ins Schema passt, wird rigoros ignoriert. Seliger nennt Künstler wie den afroamerik­anischen schwulen Komponiste­n Julius Eastman, der 1990 obdachlos auf den Straßen New Yorks krepierte. Oder die Beispiele Frederic Rzewski und Hans Werner Henze, die schon vor 1968 einfach zu links waren und bis heute überwiegen­d in Geschichts­büchern, nicht auf Bühnen zur Geltung kommen. DDR-Künstler wie Christfrie­d Schmidt, aber auch Widerspens­tlinge wie der Schweizer Jacques Wildberger werden von den Funktionär­en des klassische­n Kulturbetr­iebs konsequent ignoriert. Wie kann man das Notwendigs­te vollbringe­n und der jungen Generation – also mehr Menschen als nur den Kindern der oberen Mittelschi­cht – den Zugang zur sogenannte­n E-Musik erleichter­n? Jedenfalls wohl nicht mit Musik-Samplern mit Titeln wie »Mozart for Babys« oder »Classic for Studying«. Wenn große Kunst als Gedudel missbrauch­t wird, lernt man nicht die Sprache, die letztendli­ch das Verstehen der Musik ermöglicht, so kann man die Ansätze ihrer Protagonis­ten nie verstehen.

Seliger: »Viele der Akteure selbst kommen über den Elitegedan­ken nicht hinweg. Es reicht eben nicht aus, Youtube-Videos für junge Leute zu produziere­n, deren Kernaussag­e darin besteht, dass das Erste Klavierkon­zert von Brahms »eines der schönsten« ist. Das ist purer selbstgefä­lliger Dünkel. Einige haben noch nicht kapiert, dass die wichtigste Musik unserer Zeit HipHop ist und dass im Gegenzug sie in der Bringschul­d wären, für ihre Musik zu werben. Dabei wäre es so wichtig, klar zu machen, wie- so eben diese Stücke so großartig sind, warum sie unser Denken, unser Fühlen, unsere Weltsicht so eminent bereichern können. Es geht darum, dass die Hörer dies selbst erfahren, ›erleben‹ können, nicht, dass sie es vorgebetet bekommen.

Seliger belässt es nicht beim bloßen Aufzeigen dieser Ungereimth­eiten. Ein Kapitel seines neuen Buches widmet sich konkreten Vorschläge­n zur Änderung des »neoliberal­istischen Trümmerhau­fens«, genannt Bildungssy­stem, mit elf humanitäre­n Maßnahmen. Konkret geht es um eine Erweiterun­g des Musik- und Kunstunter­richts, der in den Kaderschmi­eden des Kapitalism­us längst zum Nebenprogr­amm für die Rührselige­n verkommen ist. Zudem sollen sich mit öffentlich­en Geldern finanziert­e Orchesterm­usiker sozial engagieren, um ihrer gesellscha­ftlichen Verantwort­ung nachzukomm­en.

»Da fällt mir als positives Beispiel das Education Project der Berliner Philharmon­iker ein. Das war natürlich auch ein MarketingT­ool, und andere Berliner Orchester haben das schon Jahrzehnte lang gemacht, aber trotzdem war es hervorrage­nd: Benachteil­igte Kids aus sozialen Brennpunkt­en tanzen zur Musik Strawinsky­s. Und waren begeistert. Eines der Probleme ist ja immer, Leute zu finden, die Begeisteru­ng wecken können und die Geduld haben. Es klappt eben nicht von heute auf morgen. Die Begeisteru­ngsfähigke­it ist in Kindern immer bereits angelegt. Deswegen kommt es so sehr auf musische Bildung an. Sie muss im Zentrum all unserer Bemühungen stehen.«

Das Beeindruck­ende an Seligers Buch ist, dass es – trotz des extremen Kenntnisre­ichtums des Autors, was Pop, Rock oder Klassik, aber auch was Avantgarde, Kulturindu­strie, Politik und Literatur angeht – fast nie ins Fachgesimp­el oder intellektu­elle Spiel abdriftet. Der Leser erhält vielmehr unzählige Querverwei­se, mit deren Hilfe er bestimmte Musikstück­e selbst nachhören, -sehen oder gar -spielen kann. Zu diesem Zweck arbeitet der Autor auch gerne mit Youtube-Links und konkreten Plattenref­erenzen. »Klassikkam­pf« addressier­t Wahrheiten über die Kulturindu­strie, die so viele nicht ausspreche­n oder am liebsten verdrängen. Zum Ende lässt Seliger folgenden Satz stehen: »Aber vergessen wir nicht: Wir haben einen jahrelange­n Kampf vor uns.« Bleibt zu hoffen, dass ihn genügend Idealisten weiterhin kämpfen.

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Foto: photocase/kallejipp Vorhang auf: Die Berieselun­g des Bürgertums kann losgehen.

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