Der Vorhang zu und alle Fragen offen
Kurz vor dem G20-Gipfel im Sommer 2017 meinte der damalige Erste Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD): »Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.« Wie sehr sich Genosse Olaf hier geirrt hat.
Alleine die Barrikadennacht vom Schanzenviertel am Freitagabend erregt bis heute die Gemüter. Nachdem die Schanze für Stunden außerhalb der Kontrolle der Staatsgewalt und der Ordnungskräfte lag, nachdem alle möglichen Leute auf den Straßenzug Schulterblatt kamen – unorganisierte Jugendliche, Neugierige und Anwohner*innen –, nachdem Barrikaden gebrannt hatten, Scheiben zu Bruch gegangen waren und der teure Alkohol aus dem REWE geplündert, waren sich die linke Presse und die organisierten Linken einig in ihrer vorauseilenden Distanzierung von den Geschehnissen.
Die »taz« meinte, dass die politische Linke kein Bündnis mit »betrunkenen Partydeppen« und »jugendlichen Desperados« eingehen dürfe, sondern den Bruch mit der »wortlos daherkommenden Randale« vollziehen müsse. Das autonome Zentrum Rote Flora sprach von »sinnfreier Gewalt«. Auch in der sonst sehr lesenswerten Stellungnahme der Gewerbetreibenden im Schanzenviertel um die Cantina Popular heißt es, der Riot sei eher getragen von »erlebnishungrigen Jugendlichen sowie Voyeuren und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden als auf einer linksradikalen Demo«.
Das mag stimmen, aber warum sollte das schlecht sein? Verkannt werden in einer solchen Kritik die Möglichkeiten, die aus der Unübersichtlichkeit entstanden sind: vielfältige Begegnungen und Aktionen, der staatlichen Kontrolle entzogen, haben den Reichtum der Formen und die Beteiligung unterschiedlichster Menschen gezeigt. Waren die meisten Aufrufe der organisierten Linken zu G20 lediglich vorhersehbare Standardfloskeln linksradikaler Provenienz, zeigte der Freitagabend keine klare Kontur und Organisierung – und das ist gut so. Vielleicht waren die Barrikaden und die Steinwürfe nicht immer ein klarer politischer Akt, ein unpolitischer und sinnloser Ausbruch von Gewalt waren sie aber keineswegs.
Denn im Riot steckt die Aussicht, aus den gegebenen Bahnen und den vorgegebenen Spielregeln auszubrechen: Ohne das Unvorhersehbare und auch das Chaotische und Be- drohliche ist der Riot nicht zu haben. Er unterscheidet sich vom Streik oder der Blockade, weil er sich nicht nur gegen die Produktion oder einen Gegner – wie eine Nazi-Demonstration – richtet, sondern an die gesamte staunende Öffentlichkeit adressiert ist. Was angegriffen wird, ist der alltägliche Normalvollzug, die
Man darf nicht in blinden Aktionismus verfallen und muss Widersprüche klar benennen: Wie verhindert man dämliche Aktionen wie das Anzünden von Kleinwagen und Fahrrädern?
Idee des »Weiter so« und der scheinbaren Alternativlosigkeit. Es ist dabei auch kein Wunder, dass sich all dies im vermeintlich linken Schanzenviertel abgespielt hat. Die Schanze ist nicht mehr das Viertel der Protestierenden, sondern längst eine Ecke in Hamburg, in der die Mieten kaum mehr bezahlbar sind.
Was bleibt nun vom jenem Freitag, an dem schlussendlich das SEK mit geladenen Maschinenpistolen in die Schanze zog und zwei Warnschüsse abgab? Hat sich die unbekannte Zahl Verletzter durch die Polizei, deren hemmungsloser Gewaltexzess gelohnt – und welche Schlüsse zieht die radikale Linke aus dem Hamburger Riot?
Der Abend in der Schanze hat neben den klassischen Aktionsformen der organisierten Linken weitere Formen hervorgebracht: Plünderungen, Unordnung und Attacken auf die Symbole der Konsumgesellschaft und der Staatsgewalt traten auf die Tagesordnung.
Unfreiwillig meisterhaft präsentierte »n24« mit seiner Parallelschaltung der G20-Chefs, die in der Elbphilharmonie der »Ode an die Freude« lauschten, auf der einen sowie den Riot-Szenen in der Stadt auf der anderen Seite die strukturelle Gewalt der Vertreter*innen des weltweiten Kapitalismus, die nun in ein paar zerbrochenen Fensterscheiben manifestierte und schlussendlich nach Hamburg zurückgekehrt ist. Diese Bilder sind anschlussfähig auch über die radikale Linke hinaus. Sie verstehen viele. Daran lässt sich anknüpfen und weitermachen.
Man darf hier aber nicht in blinden Aktionismus verfallen und muss Widersprüche klar benennen: Wie verhindert man dämliche Aktionen wie das Anzünden von Kleinwagen und Fahrrädern? Wie fängt man Ängste während des Riots auf? Wie verhindert man Sexismus? Und gleichzeitig: Wie formuliert man Kritik daran so, dass die Linke nicht sofort zum neuen, besseren Staatsschutz wird?
Die solidarischen Strukturen in den verschiedenen Camps, durch Cafés und Kneipen, in denen Verwundete versorgt wurden oder rund um den Park Fiction an der Hafenstraße, wo Leute füreinander gekocht, aufeinander aufgepasst und sich umeinander gekümmert haben, scheinen hier eine Lösung zu sein.
Es geht dabei um Selbstermächtigung und solidarische Beziehungsformen in Ausnahmesituationen. In der jüngst erschienenen und sehr lesenswerten Flugschrift »G20 – Verkehrsprobleme einer Geisterstadt« des »Komitee-17«, eines Kollektivs aus Zeug*innen, Aktivist*innen und Beobachter*innen, heißt es: »Das Erlebnis, gehandelt zu haben, auf die eine oder andere Art Widerstand geleistet zu haben, nicht nur Statist in der Inszenierung der Macht gewesen zu sein, hinterließ durchaus ein Gefühl der Ermächtigung.«
Weiter heißt es: »Die Proteste waren ein Schritt in die Lebendigkeit, ein Heraustreten aus den Gewohnheiten und der Vereinzelung des Alltags.« Darum geht es, und das ist nicht wenig dieser Tage.