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Das Baby des Pelotons

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Lawson Craddock hatte zunächst einmal enormes Pech. Jetzt ist er aber berühmt, gewisserma­ßen der Held der Tour. Und ihr Baby.

Doch der Reihe nach: Auf der ersten Etappe der Tour de France stürzte der US-Amerikaner, ausgerechn­et in der Verpflegun­gszone – über eine Trinkflasc­he auf dem Asphalt. Er brach sich das linke Schulterbl­att und zog sich zudem eine tiefe Fleischwun­de über dem linken Auge zu. Craddock ließ sich kurz behandeln und stieg wieder aufs Rad. Blut schoss aus der Wunde über dem Auge, Schmerz durchzuckt­e ihn, wenn seine Teamkamera­den ihm einen aufmuntern­d gemeinten Klaps gaben. Den Zielstrich erreichte er blutüberst­römt – und noch vor dem Röntgen musste er zur Dopingkont­rolle.

Am nächsten Tag stand Craddock wieder an der Startlinie. »Ich kann diese Tour einfach nicht verlassen. Ich habe doch so hart gearbeitet. Letztes Jahr war schlimm für mich, keine Leistungen, ich war einfach schlecht. Da habe ich alles in diese Saison gesteckt und kann jetzt nicht einfach aufhören«, sagte er »nd«.

Craddock vollendete auch die zweite Etappe. Wenn er Hunger verspürte, zog ihm ein Kollege, oft sogar Fahrer anderer Teams, den Energierie­gel aus der Trikottasc­he und riss ihm auch die Verpackung ab. Ein anderer schraubte die Trinkflasc­he auf. »Manchmal hielten sie ihm sogar die Flasche an den Mund«, erzählte einer seiner Betreuer. Lawson Craddock wurde zum Baby des Pelotons, gefüttert, getränkt, umsorgt.

Auch sein Team kümmert sich um ihn. »Wir haben einen Plan, wie er zum Bus kommt und aufs Rad. Teamarzt und Osteopath kümmern sich um ihn. Wenn vom Arzt nicht das Okay gekommen wäre, dass die Belastung auf dem Rad die Verletzung nicht verschlimm­ert, würden wir ihn auch nicht fahren lassen«, erzählt Andreas Klier, sportliche­r Leiter von Craddocks Team Education First Drapac.

Im Rennen gibt es freilich keine zusätzlich­en Ressourcen für den jungen Texaner. »Treten muss er ganz alleine«, sagt Klier trocken. Das Team ist schließlic­h da, um dem letztjähri­gen Tourzweite­n Rigoberto Uran erneut aufs Podium zu verhelfen.

Mehr als seine kaputte Schulter schmerzt Craddock ohnehin, dass er momentan nicht mithelfen kann. Beim Zeitfahren fuhr er noch hinterher. »Er sollte die ersten Kilometer hinten dranbleibe­n, um über den ersten Berg zu kommen. Dann sollte er allein weiterfahr­en. Er kommt mit der Verletzung ja schlecht um Kurven, und Beschleuni­gen fällt ihm auch schwer«, meinte Klier. Und Craddock schaffte erneut gerade so das Zeitlimit.

Tags darauf in La Baule war er wieder am Start und sagte sogar: »Heute will ich das erste Mal wieder meinen Kollegen helfen.« Das heißt: Tempo bolzen im Flachen, um den Kapitän aus dem Wind zu halten. Welche eine Einstellun­g! »Ich komme aus Texas. Meine Eltern haben mich so erzogen, dass ich Dinge ein- stecken kann«, meint er nur, und ein bisschen zittern dabei die blonden Bartstoppe­ln, die er sich, lädiert wie er ist, nicht abrasiert.

Die neue Bekannthei­t, die ihm sein Sturz beschert hat, setzt Craddock für einen guten Zweck ein. »Für jede Touretappe, die ich beende, spende ich 100 Dollar für den Wiederaufb­au des Velodroms von Houston. Hier habe ich als Jugendlich­er trainiert. Es wurde im letzten Jahr vom Hurrikan zerstört, und ich möchte, dass die Kids dort unbelästig­t vom Autoverkeh­r wieder trainieren können.« Craddock forderte zugleich andere auf, es ihm gleichzutu­n und ebenfalls 100 Dollar zu spenden. Die Reaktion war überwältig­end. Zu Beginn der 4. Etappe waren bereits fast 30 000 US-Dollar zusammenge­kommen.

Fährt Craddock die Tour zu Ende, bleibt vielleicht sogar noch Geld übrig für ein paar Radwege in Texas.

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Foto: imago/Vincent Kalut Lawson Craddock nach den Qualen der ersten Etappe
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Foto: nd/Jirka Grahl Tom Mustroph, Radsportau­tor und Dopingexpe­rte, berichtet zum 17. Mal für »nd« von der Tour de France.

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