Unsozialer Urlaubsverkehr
Ein wachsender Teil der Bevölkerung kann es sich nicht mehr leisten, in den Ferien wegzufahren, meint Oliver Schwedes
Jedes Jahr dasselbe Bild: Blechlawinen auf den Autobahnen und kilometerlange Staus, ganz Deutschland macht sich auf den Weg in den Urlaub. Ganz Deutschland? Tatsächlich werden über 70 Prozent der Verkehrsleistungen im Urlaubs- und Freizeitverkehr von nur zehn Prozent der deutschen Bevölkerung zurückgelegt. Dabei handelt es sich um die kleine Gruppe der höchsten Einkommensbezieher. Demgegenüber kann sich ein wachsender Teil der unteren Einkommensschicht eine weite Urlaubsreise nicht mehr leisten und muss in der Region bleiben oder gleich auf »Balkonien«.
Obwohl sich die Menschen der unteren Einkommensschicht weniger Verkehr leisten können, sind sie gezwungen, prozentual deutlich mehr von ihrem Haushaltseinkommen für Verkehr auszugeben als die oberen Einkommensklassen (30 Prozent zu 15 Prozent). Besonders deutlich wird dies bei Hartz-IV-Bezieher_innen, in deren Warenkorb 35 Euro im Monat für Verkehrsausgaben vorgesehen sind. Zumeist liegt der Preis eines Sozialtickets für den öffentlichen Verkehr aber deutlich darüber. Arme Menschen sind also gezwungen, Geld für Verkehrsausgaben von anderen Bedarfen wie Kleidung oder Nahrung abzuzweigen. Eine Urlaubsreise lässt sich so nicht finanzieren.
Es gibt aber noch eine andere Seite der ungleichen Verteilung des Verkehrsaufkommens. Die reichsten zehn Prozent unserer Gesellschaft sind auch überproportional für die damit verbundenen negativen Umwelteffekte und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Kosten verantwortlich. Gleichzeitig sind von den negativen Folgen des Straßenverkehrs, speziell den Gesundheitsschäden, in besonderem Maße die unteren Einkommensschichten be- troffen. So zeigt der Berliner Umweltgerechtigkeitsatlas, wie arme Menschen – weil sie auf niedrige Mieten angewiesen sind, die sich oftmals in stark verkehrsbelasteten Quartieren befinden – überproportional durch Mehrfachbelastungen betroffen sind: Lärm- und Luftemissionen, fehlende Grünflächen und schlechtes Bioklima.
Doch ist das Verkehrsaufkommen eigentlich der richtige Maßstab für Oliver Schwedes leitet das Fachgebiert Integrierte Verkehrsplanung an der Technischen Universität Berlin. eine gerechte Gesellschaft? Sollten alle Bürger_innen die Möglichkeit haben, wie die reichen zehn Prozent unserer Gesellschaft ebenso viel Urlaubs- und Freizeitverkehr zu produzieren? Oder anders gefragt: Sollen auch die armen Menschen das Recht erhalten, die Gesellschaft im selben Maße durch Verkehr zu belasten?
Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, zwischen den Begriffen Verkehr und Mobilität zu unterscheiden. Während das Verkehrsaufkommen die zurückgelegten Kilometer umfasst, bemisst sich Mobilität am Grad gesellschaftlicher Teilhabe. Immer mehr arme Menschen werden dazu gezwungen, ständig wachsende Pendlerdistanzen zum Arbeitsplatz auf sich zu nehmen. Bei ein, zwei oder drei Minijobs ist das mit einem hohen Verkehrsaufkommen und damit einhergehenden Kosten für den einzelnen Geringverdiener verbunden. Dennoch ermöglicht das niedrige Einkommen der wachsenden Zahl von »Minijobbern« oftmals nur einen geringen Grad gesellschaftlicher Teilhabe, geschweige denn, dass sie sich einen Südseeurlaub leisten können. Diese Menschen sind das ganze Jahr über viel unterwegs, aber nicht mobil.
Was notwendig ist, um gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten, ist immer gesellschaftlich umkämpft. Sind es die zwei Urlaubsflüge im Jahr der reichsten zehn Prozent unserer Gesellschaft, die sich das auf Kosten der unteren Einkommensbezieher leisten? Oder ist es die Immobilie »Balkonien«?
Der Blick auf die globale Situation macht deutlich, dass die Antwort irgendwo dazwischen liegt, denn dort setzen sich die Spaltungslinien der deutschen Gesellschaft auf größerer Stufenleiter fort. Demnach zählt die deutsche Bevölkerung zu den reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung, die sich einen vergleichbar luxuriösen Lebensstil leisten kann. Die meisten Fernreisen unternehmen Deutsche, US-Amerikaner und Briten. Das geschah bisher auf Kosten von 90 Prozent der Weltbevölkerung.
In Anbetracht der zu erwartenden weltweiten negativen Umwelteffekte und der daraus resultierenden sozialen Konflikte ist es weder denkbar noch wünschbar, dass die gesamte Weltbevölkerung einen vergleichbar exzessiven Lebensstil wie in den reichen Industrieländern praktiziert. Vielmehr muss in Deutschland die Frage beantwortet werden, wie viel Verkehr zukünftig noch möglich und wie viel Mobilität nötig ist.