»Wir wollen nicht noch weitere Tote«
Anwältin Eylin O. Somarriba über die anhaltenden Proteste gegen die Regierung Ortega in Nicaragua
Bis heute zählen Menschenrechtsorganisationen mehr als 300 Opfer des Konflikts zwischen Bevölkerung und Regierung. Der Bruder von Daniel Ortega, William Ortega, hat in einem offenen Brief am 4. Juli ein Ende der Gewalt angemahnt und seinen Bruder zu vorgezogenen Neuwahlen aufgefordert. Das hat dieser am Wochenende abgelehnt. Wie ist es möglich, den seit April währenden Konflikt in Nicaragua zu beenden?
Der Rücktritt von Daniel Ortega wäre ein erster Schritt und darauf aufbauend die Redemokratisierung der staatlichen Institutionen und die Vorbereitung freier Wahlen. Doch Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo spielen auf Zeit, um ihre Vertrauten in Position zu bringen und einen Orteguismo ohne Ortega zu installieren.
Was waren die Beweggründe für ihre Ausreise Anfang Juli?
Ich habe mich für die Ausreise entschieden, weil ich Angst um das Leben meiner 17-monatigen Tochter habe und keine Perspektive für ein normales Leben in León mehr gesehen habe. Mein Name stand schon im vergangenen Jahr auf einer schwarzen Liste der Regierung, das sind die sogenannten Mapeos, in denen die Nachbarschaften nach Anhängern und Gegnern der Regierung gescannt werden. Ich habe in León für den Hamburger Nicaragua-Verein im Rahmen der Städtepartnerschaft mit der Hansestadt Hamburg gearbeitet.
Wie war die Situation in León vor Ihrer Ausreise?
Die Situation ist furchtbar, es gibt viel Angst, viel Unsicherheit in Nicaragua. Die Gewalt in den Straßen Nicaraguas hat längst die Viertel erreicht, wo die Leute leben. Die Leute wehren sich, bauen Barrikaden auf, um sich gegen das Eindringen der paramilitärischen Gruppen in ihre Nachbarschaft zu schützen. In León gehören die Barrikaden seit gut ein paar Wochen zum Alltag, aber Stadtverwaltung und Polizei haben gemeinsam mit den Paramilitärs versucht, die Barrikaden wegzureißen, sie aufzulösen. Warum bauen die Leute Barrikaden?
Sie wollen sich schützen. Das hat in Managua begonnen und sich in andere Städten übertragen. Hintergrund ist, dass besonders nachts Paramilitärs unterwegs sind und auf alles schießen, was sich bewegt.
Seit wann gibt es die Paramilitärs und agieren die wirklich im Auftrag der Regierung? Paramilitärische Strukturen gibt es schon lange. Lange war die Juventud Sandinista (Sandinistische Jugend) mit Knüppeln aktiv, um Oppositionelle einzuschüchtern. Seit Ende April, Anfang Mai hat sich das geändert – nun sind es Bewaffnete, die Angst und Schrecken verbreiten. Es gibt eine ganze Reihe von Paramilitärs, die aussagen, dass sie von der Regierung bezahlt werden. Die Waffen, die sie benutzen, stammen aus Polizei- und
Eylin O. Somarriba Rojas ist Anwältin und hat in León für den Hamburger Nicaragua-Verein gearbeitet. Vor wenigen Tagen hat die 38-Jährige Nicaragua mit ihrer kleinen Tochter verlassen – nicht nur, weil sie auf einer schwarzen Liste stand, sondern auch, weil sie Angst um ihre Tochter hatte. Mit ihr sprach für »nd« Knut Henkel. Armeebeständen – das beweisen Videos und zahlreiche Fotos. Zudem kooperieren sie mit der Polizei, das ist ebenfalls dokumentiert.
Wie wirkt sich die Präsenz der Paramilitärs im Alltag aus?
Wir leben mit zwei Realitäten: Morgens herrscht ein Ambiente der Normalität. Es ist ruhig, die Schulen sind geöffnet, die öffentliche Infrastruktur funktioniert. Das ändert sich gegen 14 Uhr, dann beginnt die Unsicherheit. Die Paramilitärs übernehmen, und abends traut sich niemand mehr auf die Straße – mit Ausnahme der Menschen an den Barrikaden.
Warum gibt es diesen zweigeteilten Tag – was steckt dahinter?
Die Regierung argumentiert gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, dass hinter den Protesten kriminelle Gruppen der Ultrarechten stecken, die die demokratisch legitimierte Regierung destabilisieren wollen. Deshalb wird versucht, den Alltag zumindest teilweise aufrechtzuerhalten. Und entspricht diese Darstellung der Regierung der Realität?
Nein, keinesfalls. Die Proteste richteten sich anfangs gegen die Rentenreform der Regierung. Doch diese Reform hat das Fass nur zum Überlaufen gebracht, denn die Leute haben nach elf Jahren unter Daniel Ortega und Rosario Murillo die Nase gestrichen voll. Die beiden stehen für die Aushöhlung der Verfassung, für Korruption, Vetternwirtschaft den Versuch, eine Familiendynastie zu etablieren.
Welche Relevanz misst die internationale Gemeinschaft dem Konflikt in Nicaragua bei – gibt es genug Aufmerksamkeit?
Die Europäische Union hat zwar hier und da den Konflikt in Nicaragua erwähnt, aber in Lateinamerika und den USA ist die Aufmerksamkeit ungleich größer. In Nicaragua hoffen wir aber sehr, dass die internationale Gemeinschaft aktiv werden wird, denn wir wollen nicht noch weitere Tote und keinen Bürgerkrieg.