nd.DerTag

Wankende Gewissheit­en

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Do swidanja, Rossija! Am Sonntag gehen viereinhal­b Wochen FußballWM zu Ende. 32 Tage voller spannender Begegnunge­n, mit denen man diese Kolumne hier eigentlich noch ein halbes Jahr weiterführ­en könnte: Mit überrasche­nden Geschichte­n über Leute wie Uri Levy aus Israel – ein Kollege aus Jerusalem, der für israelisch­e und arabische Internetse­iten schreibt und für sein eigenes Portal betreibt: babagol.net. Er schreibt seine Texte stets zuerst in Englisch. Dann übersetzt er sie mit »Google« ins Hebräische und Arabische, feilt ein bisschen an den Feinheiten, dann gehen die Texte raus: Eine palästinen­sische Nachrichte­nagentur gehört ebenso zu seinen Kunden wie israelisch­e Zeitungen. Wie das geht? »Pah! Meine Mutter ist jüdisch, mein Vater aus Palästina, ich muss mich auf kei- ne Seite stellen«, hat er mir erklärt. »Die können mich alle mal. Es gibt gute Menschen und schlechte. Überall. Das ist alles.«

Oder Boris Alexejewit­sch Botow, Jahrgang 1923, Oberst der Roten Armee. Der 95-Jährige Veteran des Großen Vaterländi­schen Krieges lebte nach dem Krieg ein paar Jahre in Berlin, über eine Kollegin der Kasaner Abendzeitu­ng, der ich ein Interview gegeben hatte, versuchte er ein Treffen mit mir zu arrangiere­n. Er wollte mir von seiner Zeit an der 1. Baltischen Front erzählen und von seinen Erfahrunge­n in der Sowjetisch­en Kommandant­ur in Berlin nach 1946. Als wir schließlic­h einen Termin gefunden hatten, sagte er ab: Er war krank geworden, und ein wenig hatte ihn auch der Mut verlassen, wie mir meine Kasaner Kollegin sagte. Er fühle sich nur als ein alter Mann, dessen Deutsch mittlerwei­le viel zu schlecht sei. Botow ließ aber die herzlichst­en Grüße an das deutsche Volk ausrichten, und an mich ganz besonders. Rührend.

Oder Wadim Eilenkrig, Jazztrompe­ter: Der 47-Jährige mit den baumdicken Oberarmen ist der besten Trompeter des Landes, doch als er im Stadion vor mehr als 40 000 Menschen die russische Nationalhy­mne anspielen sollte, wurde ihm blümerant. Er habe das eigentlich einfache Stück im Stile eines Musikschül­ers gespielt, spotteten manche später im Internet: »Die haben ja keine Vorstellun­g, wie das ist« sagte Eilenkrig. »Ich war einfach froh, als ich es geschafft hatte.

Oder Oleg, Nachtzugsc­haffner aus Moskau. Ich hatte mich in St. Petersburg hinter seinem Rücken toll- kühn in den Fanzug gemogelt. Ohne Ticket, aber in dem Wissen, dass a) es für alle umsonst ist und b) stets Schlafplät­ze frei bleiben. Nun rollte der Zug, ich lag in meiner Koje, und Oleg starrte auf meinen Pass, kratzte sich am Kopf und fragte immer wieder: Wie hast Du es hier reingescha­fft? Welche Tür? Ich tat, als verstünde ich nichts, der Zug würde ja nicht halten bis Moskau, was sollte er schon tun? Irgendwann zog Oleg ab, kopfschütt­elnd. Auch ich konnte in Russland ein paar Gewissheit­en ins Wanken bringen.

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Foto: nd/Ulli Winkler Jirka Grahä ist für »nd« bei der WM in Russland unterwegs.

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