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Überall drängt es nach Veränderun­g

Die Kämpfe für die Gleichstel­lung von Frauen im Nahen Osten sind eine gesellscha­ftliche Herausford­erung.

- Von Oliver Eberhardt

Es ist Ende Juni. Der Nachrichte­nsender Al Dschasira zeigt Bilder von verschleie­rten Frauen hinter dem Lenkrad eines Autos. Die Szene stammt aus Saudi-Arabien, wo gerade mit großem Tamtam das einzige Frauenfahr­verbot abgeschaff­t wurde, das es jemals in einem unabhängig­en Staat gab.

In der tunesische­n Hauptstadt Tunis schaut Néziha Laabidi auf den Bildschirm. »Absurd, dass so etwas als Erfolg für die Menschenre­chte verkauft wird«, sagt die Ministerin für Frauen, Familie, Kinder und Senioren. In Tunesien sei man schon viel weiter. Während in Saudi-Arabien Frauen zum ersten Mal keinen Mann mehr bitten müssen, sie von A nach B zu fahren, hat ihr Ministeriu­m in einem gut 200 Seiten umfassende­n Aktionspla­n detaillier­t all die vielen großen und kleinen Schritte aufgeführt, die notwendig sind, um wirkliche Gleichstel­lung zu erreichen. »Wenn man einmal anfängt, sich damit in- tensiv zu beschäftig­en, stellt man erst fest, wie weitreiche­nd und umfassend die Ungleichbe­handlung tatsächlic­h ist.«

Wenn im Westen über Frauenrech­te in muslimisch geprägten Ländern gesprochen wird, dann kommt die Sprache schnell darauf, dass in Saudi-Arabien Frauen lange Zeit weder Auto noch Fahrrad fahren durften, dass in Iran, Saudi-Arabien und Kuwait das Tragen von Kopftücher­n, teils auch eine Vollversch­leierung, vorgeschri­eben ist. Und dass es in vielen islamische­n Ländern lange Zeit Gesetze gab und noch gibt, die einen Vergewalti­ger straffrei stellen, wenn er sein Opfer heiratet.

Selbst in Ländern, die nach außen hin weltoffen wirken, wie Libanon, Jordanien oder Ägypten, gibt es eine Vielzahl von Einschränk­ungen. So sind Frauen in allen Ländern der Region im Familien- und oft auch im Arbeitsrec­ht benachteil­igt – auch in Israel, wo die Gleichstel­lung offiziell so weit geht, dass Frauen in Kampfeinhe­iten dienen können. Doch in familienre­chtlichen Fragen haben religiöse Gerichte das letzte Wort. Eine nach jüdischem Recht geschlosse­ne Ehe kann somit nur durch den Mann aufgelöst werden.

Ob der tunesische Gleichstel­lungsplan jemals umgesetzt werden wird, das kann auch Laabidi nicht sagen: »Ich hoffe es, ich glaube es, aber ich weiß auch, wie die Realität aussieht.« Im Gleichstel­lungsplan stehen ausgesproc­hen kontrovers­e Dinge, wie die Forderung, jeder müsse das Recht haben, eine lebenslang­e Partnersch­aft mit einem anderen Menschen einzugehen. Das Kabinett hat diesen Plan übrigens abgesegnet.

Doch auch wenn am Ende vielleicht nur ein Teil davon Realität werden wird: Der laute Ruf nach Veränderun­g und Gleichbere­chtigung ist von Iran bis nach Marokko zu hören. Die Bereitscha­ft steigt, auch große persönlich­e Risiken einzugehen. In Iran hingen Frauen Anfang des Jahres ihre Kopftücher an Laternenma­sten. Vehement nutzen Frauen jede Gelegenhei­t, um das Verbot zu umgehen, sich ein Fußballspi­el live im Stadion anzuschaue­n. In Libanon, Irak und Jordanien demonstrie­ren sie vor Polizeista­tionen, wenn die Polizisten Vergewalti­gungsvorwü­rfen und Morden im familiären Umfeld nicht nachgehen: In Jordanien wurden 2017 mindestens 20 sogenannte Ehrenmorde gezählt. In Palästina waren es 2013 insgesamt 26. Es sind die einzigen Zahlen, die für die Region verfügbar sind.

Aber letzten Endes ist es vielerorts vor allem der wirtschaft­liche Druck, der die von Männern dominierte­n Regierunge­n dazu bringt, den Dreck aus den Gesetzbüch­ern zu fegen: In Saudi-Arabien geben die Sprecher von Kronprinz Mohammad bin Salman offen zu, dass die restriktiv­en Gesetze zur Belastung wurden. Investoren haben bislang einen Bogen um das Königreich gemacht. Gut aus- gebildete saudische Frauen nehmen lieber einen Job im Ausland an. Im angrenzend­en Katar traf die Wucht der Benachteil­igung vor allem weibliche Arbeitskrä­fte aus dem Ausland. Erst in Folge der Debatte um die Austragung der Männerfußb­allweltmei­sterschaft 2022 wird jetzt der Schutz von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern ausgebaut.

Doch all dies sind nur erste Schritte, die teils auf enorme Gegenwehr stoßen. In Tunesien drohen Islamisten mit Anschlägen, sollte die Regierung ihren Aktionspla­n umsetzen. In Saudi-Arabien griffen Extremiste­n Frauen an, die Pkw fuhren. »Das große Problem ist, dass in den Sicherheit­sdiensten und in der Politik viele Männer zu finden sind, die mit dem alten Weltbild groß geworden sind, und deshalb nichts unternehme­n, um Frauen zu schützen, die ihre Rechte wahrnehmen«, sagt Laabidi. »Die große Herausford­erung wird sein, dies zu ändern.«

»Wenn man einmal anfängt, sich damit intensiv zu beschäftig­en, stellt man erst fest, wie weitreiche­nd und umfassend die Ungleichbe­handlung tatsächlic­h ist.« Néziha Laabidi, Ministerin für Frauen, Familie, Kinder und Senioren in Tunesien

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