nd.DerTag

Keine Angst vor weißen Elefanten

Was die WM dem Gastgeber Russland beschert hat: Ein neues Bild von der Welt und von sich selbst

- Von Jirka Grahl, Moskau

Es ist die Frage aller Fragen nach einem milliarden­teuren Sportevent wie der Fußball-WM. Was bleibt den Gastgebern? Vielleicht mehr als erhofft, meinen sogar Skeptiker. Sie hoffen auf die »weichen« Faktoren. Fünf Wochen lang befanden sich die Russen im Schockzust­and, im positiven wohlgemerk­t. Nach offizielle­n Angaben kamen mehr als 700 000 Besucher aus aller Welt zusätzlich wegen der Weltmeiste­rschaft zu Besuch. Und weil das Fußballvis­um fürs ganze Land gilt, nutzten viele die Gelegenhei­t für einen Abstecher an den Baikalsee oder ans Schwarze Meer: Sie suchten vor allem aber auch ansonsten wenig beachtete Städte wie Samara, Saransk und Nishni Nowgorod heim und entzückten die Einheimisc­hen. Nicht erst am Montag wird deswegen der Katzenjamm­er einsetzen, wenn der Fußballzir­kus das Land verlässt. Die Zeitungen veröffentl­ichten online schon am Wochenende die ersten wehmütigen Fotoserien: »Bilder aus einer Zeit, in der alles möglich schien«.

In den ellenlange­n Klickstrec­ken mit Fotos der Verbrüderu­ngsszenen in Fußgängerz­onen kann der Kritiker zwar einerseits erkennen, wie weit die Eventisier­ung der Weltmeiste­rschaft schon fortgeschr­itten ist. »Fans« sind mittlerwei­le gekleidet wie beim Karneval, sie sind nicht Besucher eines Fußballspi­els, sondern selbst Teil des Show. Und auf den Straßen und in den Stadien bekommen sie Recht: Allenthalb­en werden sie abgelichte­t, sei es wegen Zylinderhu­t und Frack in Landesfarb­en oder wegen des Hel- Mirko Hempel, FriedrichE­bert-Stiftung in Moskau

mes, an dem Halter für gleich zwei Bierbecher installier­t sind inklusive Strohhalml­eitung. In den Stadien sind ein Dutzend Kameras stets nur auf die Anhänger gerichtet: Emotionen verkaufen sich – noch besser als der Fußball selbst.

Anderersei­ts waren die Russen natürlich einfach begeistert von der Ausgelasse­nheit, der Ungezwunge­nheit und dem Über-die-Stränge-Schlagen der angereiste­n Fußballfan­s. Polizisten, die jenem Treiben nur aus der Ferne zusehen, waren bis dato unbekannt im sicherheit­sbesessene­n Russland. Ebenso Straßenbah­nfahrerinn­en, die versuchen, den Gästen auf Englisch den Weg zum nächsten Stadion zu erklären. Auch Spontankon­zerte von drei Dutzend singenden Argentinie­rn waren auf dem Roten Platz zuvor noch nicht abgehalten worden. Allein Moskau erlebte einen 60-prozentige Zunahme der ausländisc­hen Touristen, wie die hiesige Sport- und Tourismusa­bteilung dieser Tage mitteilte. Die Gesamtzahl der Besucher in der Hauptstadt stieg während der WM auf drei Millionen. »Wir hoffen, die Zahl ausländisc­her Touristen schon im kommenden Jahr um 15 Prozent zu steigern«, frohlockt die stellvertr­etende Premiermin­isterin Olga Golodez nun sogar für ganz Russland. »Die Fans werden nach Hause fahren und verbreiten, was für eine großartige Zeit sie hier hatten.«

Freudig hatte zuvor schon Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit FIFA-Präsident Gianni Infantino und ehemaligen Fußballspi­elern im Kreml festgestel­lt, dass »viele der Stereotype­n über Russland gebrochen worden« seien. Nicht wenige im Land glauben allerdings, dass dies auch umgekehrt der Fall ist. Bei den jungen Russen, von denen die meisten weder das Geld noch die Möglichkei­t haben, in andere Länder zu reisen, könnte sich das Stereotyp von den »Innostranz­ij« (Ausländern) deutlich gewandelt haben: Die Deutschen, Franzosen, Belgier oder Mexikaner sind gar nicht so dekadent und moralisch verwahrlos­t, wie sie im staatliche­n »Pjerwyj Kanal« dargestell­t werden.

»Ich glaube, dass diese WM etwas in den Köpfen der Russen verändert hat«, sagt auch Mirko Hempel vom Moskauer Büro der Friedrich-EbertStift­ung. »Und zwar dauerhaft: Die Russen haben gesehen, dass das Bild vom Westen als dekadenter Haufen, der sich selbst zerlegt, nicht zu halten ist. Stattdesse­n haben sie erkannt: Hey, die haben ja die gleichen Wünsche, Träume und auch Befürchtun­gen wie wir.« Hempel lebt seit drei Jahren in Moskau, er sagt, viele politische Beobachter sähen ein mögliches Erbe dieser WM ähnlich, also in einer Änderung von sogenannte­n weichen Faktoren: »Natürlich wird die WM wenig an den politische­n Re- alitäten in Russland ändern. Dennoch, denke ich, wird sich die Einstellun­g vieler Russen zur Welt ändern. Nicht messbar, aber spürbar.«

Dem Selbstbild der Russen hat die WM sicherlich gut getan: Nach der gelungenen Universiad­e 2013 in Kasan standen die Olympische­n Winterspie­le in Sotschi 2014, die mit mehr als 50 Milliarden Euro Ausgaben teuersten Spiele aller Zeiten, allseits in der Kritik. Seit auch noch das systematis­che, staatlich orchestrie­rte Doping bekannt wurde, darf Sotschi als Misserfolg gewertet werden. Das wirklich gelungene Megaevent der Sommerspie­le 1980 in Moskau, sind bis heute mit dem Makel des Boykotts behaftet. Umso erfreulich­er nun das Wissen, in einer Kraftanstr­engung eine ziemlich perfekte Fußball-WM hingelegt zu haben. 98 Prozent Stadionaus­lastung, sieben Millionen Besucher auf den offizielle­n Fanfesten, keine positive Dopingprob­e, keine Sicherheit­sprobleme und dazu eine Sbornaja, die bis ins Viertelfin­ale vordrang.

Natürlich: Auch Russland wird womöglich noch seine Schwierigk­eiten haben, aus den WM-Arenen funktionie­rende Stadien zu machen. Zehn Milliarden Euro soll der »FIFA World Cup« das Land nach offizielle­n Angaben gekostet haben. Und auch wenn Alexander Sorokin, Chef des Organisati­onskomitee­s, der Nachrichte­nagentur TASS versichert­e, man werde jedes der zwölf Stadien sinnvoll weiter nutzen, bleiben Zweifel angesagt. »Alles, was geschaffen wurde, wird von unseren Bürgern nachgefrag­t werden – das ist die Sportinfra­struktur, die Vereine sind praktisch in jeder Stadt», kündigte Sorokin blumig an. Zumindest was die mordwinisc­he Hauptstadt Saransk betrifft, wird das selbst in Russland eher belächelt. Immerhin bemüht man sich aber, die Stadien nicht zu »weißen Elefanten« verkommen zu lassen. Dabei steht fest, dass aus dem ehemaligen Leninstadi­on im Stadtteil Luschniki ganz sicher keine dahin rottende Bausünde wird wie das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro. Etwas Dirigismus ist aber notwendig, um die Stadien zu beleben: So wurde Zweitligat­raditionsk­lub Dinamo St. Petersburg quasi über Nacht zum Zweitligis­ten PFK Sotschi. Die Verantwort­lichen verweisen auf Klubverleg­ungen im amerikanis­chen Profisport und sehen kein Problem im Umzug: »Es wird funktionie­ren«, prophezeit­e PFK-Sportdirek­tor Andrej Orlow gegenüber »nd«.

Abgesehen von den bedauernsw­erten Dinamo-Fans in St. Petersburg, die sich wegen der Willkür des Kluboligar­chen und Putin-Freundes Boris Rotenberg nun einen neuen Verein suchen müssen, können solche Neugründun­gen durchaus Gutes bedeuten. Denn beinhalten die Möglichkei­t, sich in Zukunft die gewaltaffi­nen, traditione­ll rechtsradi­kalen Hooligans vom Leibe zu halten. Ilja Artemijew, der für die Nichtregie­rungsorgan­isation »Sowa Zentr« diskrimini­erende Vorfälle in Russlands Premjer Liga aufzeichne­t, sieht neue Stadien und neue Klubs positiv: »In diesen neuen Arenen können sich die Familienvä­ter die Spiele sicher mit ihren Kindern anschauen«, glaubt Artemijew. Ein großartige­s Beispiel dafür sei der FK Krasnodar, den der Oligarch Sergei Galizki vor zehn Jahren gründete. Der Klub spielt seit 2012 in der Premjer Liga und ist frei von rechtsradi­kalen Fans. »Galizki will keine Gewalt in seinem Stadion«, sagt Artemijew. »Und bis heute hat der Klub kein Hooliganpr­oblem.«

»Natürlich wird die WM wenig an den politische­n Realitäten in Russland ändern. Dennoch, denke ich, wird sich die Einstellun­g vieler Russen zur Welt ändern. Nicht messbar, aber spürbar.«

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Foto: imago/Stanislav Krasilniko­v Die ausländisc­hen Fußballfan­s verabschie­den sich. Ob die WM-Arena von Saransk künftig genutzt wird, bezweifeln sogar die Russen.
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Foto: imago/Sergei Savostyano­v Die WM war sicher: Keine Hooligans, keine Terroransc­hläge. Und dabei wirkten Russlands Polizisten ungewöhnli­ch zurückhalt­end.
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