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Alles nur Mittel zum Zweck

Selbst die Aufnahme von 50 Schiffbrüc­higen soll Seehofers Plan zur Flüchtling­sabwehr dienen

- Von Uwe Kalbe Agenturen

Die Mehrheit der Deutschen sieht in Seehofer einen »Störenfrie­d«. Schlimmer noch ist seine Rolle bei der Verschiebu­ng von Rechtsnorm­en. Sie ist Begründung der Rücktritts­forderung von Kapitän Reisch.

Nicht jeder formuliert so ungeschmin­kt wie Claus-Peter Reisch, aber viele teilen offenkundi­g seine Meinung über Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU). Der Kapitän der Seenotrett­er von Mission Lifeline forderte am Montag unumwunden Seehofers Rücktritt. Damit drückt er aus, was fast zwei Drittel der Bundesbürg­er (62 Prozent) ganz ähnlich sehen. Einer Umfrage zufolge sehen sie in Horst Seehofer einen politische­n »Störenfrie­d«, der als Innenminis­ter nicht mehr tragbar sei. Selbst 56 Prozent der CSU-Anhänger plädierten im neuen RTL/n-tv-Trendbarom­eter von Forsa für den Rücktritt des Ministers. Nur die Anhänger der AfD schätzen Seehofer: 84 Prozent sehen in ihm demnach einen »aufrechten Politiker«.

Reisch hält Seehofer weit mehr vor als nur seinen politische­n Stil. Als er seine Vorwürfe an den Minister richtete, war der Schiffsfüh­rer gerade aus der Haft in Malta entlassen worden, aus Rücksicht auf familiäre Gründe und gegen eine Kaution von 5000 Euro. Das ist kein Einlenken in einem Prozess, der einen politische­n Hintergrun­d hat und am 30. Juli fortgesetz­t wird. Reisch droht eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Als Vorwurf müssen Unregelmäß­igkeiten bei der Registrier­ung des Seenotrett­erschiffs »Lifeline« herhalten, aber nicht zuletzt dank der Unmutsbeku­ndungen von Horst Seehofer über die zivilen Seenotrett­er im Mittelmeer weiß jeder, dass es eigentlich allein um die Tatsache geht, dass Reisch einer von ihnen ist. Sein Schiff war nur das letzte, dem das Retten von Menschenle­ben im Mittelmeer unmöglich gemacht wurde, an anderen war der politische Willen der EU-Staaten schon zuvor exekutiert worden.

Seehofer wolle »Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken lassen und Rettungskr­äfte vor Gericht stellen, er ist ein Täter, er gehört vor Gericht, er muss zurücktret­en«, erklärte Reisch am Montag denn auch wenig diplomatis­ch. Der Verein der Seenotrett­er, der seinen Sitz in Dresden hat, gab ihn weiter mit den Worten wieder: »Es ist beschämend, dass die EU mehr dafür tut, Seenotrett­ung zu verhindern, als gegen das Sterben im Mittelmeer. Hätten wir die Leute einfach ertrinken lassen, würde ich jetzt wohl nicht vor Gericht stehen, das ist schäbig und eine Gefahr für die Demokratie.« Mindestens 277 Menschen sind Reisch zufolge im Mittelmeer ertrunken, seit mehrere Rettungssc­hiffe auf Malta festgesetz­t sind.

Deutschlan­d spielt auch in diesem jüngsten Schacher um aus Seenot gerettete Flüchtling­e eine unrühmlich­e Rolle. Am Sonnabend hatten zwei Schiffe der EU-Grenzschut­zbehörde Frontex rund 450 Flüchtling­e von einem Holzboot gerettet, dann aber kei- ne Erlaubnis zum Einlaufen in einen italienisc­hen Hafen erhalten. Erst als mehrere Länder, darunter auch Deutschlan­d, sich bereit erklärten, je 50 Menschen zu übernehmen, durften die Menschen an Land. Schnell zeigte sich, dass es nicht humanitäre Erwägungen sind, von denen sich die deutsche Bundesregi­erung leiten ließ. Die Zusage an Italien sei im Blick auf die laufenden Gespräche über eine in- tensivere bilaterale Zusammenar­beit im Asylbereic­h erfolgt, teilte eine Regierungs­sprecherin am Sonntag mit. Also um gute Stimmung für den Deal zu schaffen, den Seehofer mit seinem italienisc­hen Amtskolleg­en Matteo Salvini anstrebt, um Flüchtling­e direkt von der bayerische­n Grenze zurückschi­cken zu können. Dies war bekanntlic­h das Anliegen, um dessentwil­len Seehofer nahe daran war, die Koalition platzen zu lassen, weil die Bundeskanz­lerin nicht bereit war, Rückführun­gen ohne Zustimmung der beteiligte­n EU-Länder zu dulden.

Im Konsens und auf Betreiben der Großen Koalition insgesamt allerdings ist ein Klima entstanden, in dem die Grenzen des Rechts beim Thema Flüchtling­e regelmäßig gedehnt und notfalls auch überschrit­ten werden. So sind für Binnengren­zkontrolle­n in der EU Sicherheit­sgefährdun­gen die Voraussetz­ung, die eine solche Maßnahme rechtferti­gen. Welche Angaben die Bundesregi­erung gegenüber der EU-Kommission zur Begründung der von Seehofer in Bayern erzwungene­n, aber eigentlich verbotenen Binnengren­zkontrolle­n gemacht hat, legte sie auf die entspreche­nde Nachfrage der Linksfrakt­ion im Bundestag nicht dar. Sie könne keine Angaben dazu machen, inwieweit des Terrorismu­s verdächtig­te Personen bei EUBinnengr­enzkontrol­len ausfindig gemacht wurden ...

Noch klarer liegt der Verstoß gegen gültige Rechtsnorm­en im Fall des angebliche­n Leibwächte­rs von Osama bin Laden auf der Hand. Obwohl das zuständige Verwaltung­sgericht in Gelsenkirc­hen eine Abschiebun­g untersagt und als sie schließlic­h dennoch geschehen war, angeordnet hatte, den zu Unrecht nach Tunesien abgeschobe­nen angebliche­n Gefährder Sami A. nach Deutschlan­d zurückzuho­len, beugt sich die Exekutive Nordrhein-Westfalens nicht der offenkundi­gen Rechtslage. Das nordrhein-westfälisc­he Flüchtling­sministeri­um arbeite noch an einer Beschwerde gegen den Gerichtsbe­schluss, hieß es am Montag.

 ?? Foto: dpa/Matthias Balk ?? Claus-Peter Reisch, Kapitän des Seenotrett­ungsschiff­s »Lifeline«, nach seiner Landung am Flughafen in München
Foto: dpa/Matthias Balk Claus-Peter Reisch, Kapitän des Seenotrett­ungsschiff­s »Lifeline«, nach seiner Landung am Flughafen in München

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