nd.DerTag

Hinweise auf Misshandlu­ngen und Folter

Paulo Abrão über die Menschenre­chtssituat­ion in Nicaragua im Speziellen und Mittelamer­ika im Allgemeine­n

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Als Generalsek­retär der Interameri­kanischen Menschenre­chtskommis­sion (CIDH) haben Sie kürzlich mit einer großen Delegation Nicaragua besucht. Mit welchen Ergebnisse­n?

Die Kommission ist zu dem Schluss gekommen, dass der nicaraguan­ische Staat während der Proteste im Land verschiede­ne Grundrecht­e wie das Recht auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit sowie die Meinungsfr­eiheit in vielen Fällen verletzt und den Zugang zum Recht nicht gewährleis­tet hat. Wir haben festgestel­lt, dass der Staat sein Gewaltmono­pol völlig unverhältn­ismäßig eingesetzt hat, um die Proteste zu unterdrück­en – mit dem Ergebnis, dass schon bis Ende Juni mehr als 200 Tote und über 1300 Verletzte zu beklagen waren. Mehr als 400 Menschen wurden willkürlic­h festgenomm­en und für mehrere Tage festgehalt­en, ohne dass sie mit ihrer Familie oder einem Anwalt hätten sprechen können. Es gibt Hinweise, die auf Misshandlu­ngen und Folter hindeuten, ebenso wie auf extralegal­e, vorsätzlic­he Tötungen.

Das sind schwere Vorwürfe. Was wird die Kommission nun tun?

Wir haben von Nicaragua die sofortige Einstellun­g der Repression­en ebenso wie eine angemessen­e Versorgung der Opfer verlangt. Außerdem überprüfen wir die Umsetzung unserer Empfehlung­en an den nicaraguan­ischen Staat und haben eine unabhängig­e Gruppe internatio­naler Experten (GIEI) ernannt, die die Vorkommnis­se untersuche­n soll.

Welches Mandat hat die internatio­nale Expertengr­uppe?

Die GIEI wird vorerst für sechs Monate im Land sein und hat das Mandat, sämtliche Gewalttate­n zu untersuche­n, zu denen es seit dem 18. April dieses Jahres in Nicaragua gekommen ist. Natürlich muss sie sich dabei auf die schwersten Menschenre­chtsverlet­zungen konzentrie­ren. Die GIEI wird die nationalen Behörden bei ihren Ermittlung­en unterstütz­en, rechtliche Empfehlung­en ausspreche­n, Schuldige identifizi­eren und bei der Ausarbeitu­ng eines Plans für die Unterstütz­ung der Opfer helfen.

Wie kann garantiert werden, dass die nicaraguan­ische Regierung nicht intervenie­rt?

Es ist zuallerers­t Aufgabe der nationalen Behörden, die Untersuchu­ngen durchzufüh­ren. Die internatio­nalen Organisati­onen können nur ergänzend aktiv werden, und das Instrument, das die Unabhängig­keit und Glaubwürdi­gkeit der Untersuchu­ngen sicherzust­ellen soll, ist die internatio­nale Expertengr­uppe GIEI. 2014 haben wir eine ähnliche Expertengr­uppe nach Mexiko geschickt, um dort den Fall der 43 verschwund­enen Studenten aus Ayotzinapa zu untersuche­n. Dort hat die Experten- gruppe dabei geholfen, zu glaubwürdi­gen Untersuchu­ngsergebni­ssen zu kommen.

Im Fall der verschwund­enen Studenten von Ayotzinapa hat die dortige GIEI vor zwei Jahren ihren Abschlussb­ericht präsentier­t. Den hat die mexikanisc­he Regierung zwar entgegenge­nommen, doch die wahren Täter sind bis heute nicht verurteilt. Könnte das in Nicaragua nicht auch passieren?

Der Bericht der GIEI in Mexiko war sehr wichtig, um Hypothesen zum Tatablauf zu widerlegen, die nicht der Wahrheit entsprache­n. Im Anschluss hat die interameri­kanische Menschenre­chtskommis­sion einen Nach- folgemecha­nismus für die Untersuchu­ngen zu Ayotzinapa etabliert. Damit verbunden sind regelmäßig­e Treffen, um die mexikanisc­hen Behörden zur Umsetzung unserer Empfehlung­en zu bewegen.

Auch andere Länder in der Region wie Honduras würden sich ein größeres Engagement der CIDH wünschen. Dort ist es nach den umstritten­en Wahlen im November 2017 zu schweren Menschenre­chtsverlet­zungen durch die staatliche­n Sicherheit­sbehörden gekommen.

Erst kürzlich haben wir uns mit der honduranis­chen Regierung getroffen und zum Ausdruck gebracht, dass wir

Paulo Abrão ist Generalsek­retär der Interameri­kanischen Menschenre­chtskommis­sion (CIDH). Die CIDH ist ein Organ der Organisati­on Amerikanis­cher Staaten (OAS). Zusammen mit dem Interameri­kanischen Gerichtsho­f für Menschenre­chte ist sie ein wichtiges Instrument zum Schutz der Menschenre­chte in der Region. Über die Arbeit der Kommission in Nicaragua und die Menschenre­chtslage in der Region sprach mit Abrão für »nd« Martin Reischke. ein besonderes Instrument brauchen, um die massiven Menschenre­chtsverlet­zungen zu untersuche­n. Wir warten noch auf die Antwort der honduranis­chen Regierung, aber wir werden darauf bestehen, dass es eine Möglichkei­t geben muss, um die Vorkommnis­se zu untersuche­n.

Ein wichtiges Instrument der CIDH ist es, als Präventivm­aßnahme besonders gefährdete Personen wie Menschenre­chtsvertei­diger unter Schutz zu stellen.

Der Staat ist internatio­nal dazu verpflicht­et, diese Personen besonders zu schützen. Konkret heißt das, dass der Staat gemeinsam mit den zu schützende­n Personen einen Sicherheit­splan entwickelt und umsetzt. Manchmal funktionie­rt das und manchmal auch nicht, aber die interameri­kanische Menschenre­chtskommis­sion organisier­t regelmäßig­e Arbeitstre­ffen, um auf die Umsetzung der Maßnahmen zu drängen.

Auch für die honduranis­che Umweltakti­vistin Berta Cáceres galten diese besonderen Schutzmech­anismen – trotzdem wurde sie 2016 ermordet.

Es ist sehr komplizier­t, wenn eine Person, die internatio­nal einen besonderen Schutzstat­us genießt, ihr Leben aufgrund von Versäumnis­sen der staatliche­n Behörden verliert. Wenn wir einer Person diesen Schutzstat­us zusprechen, dann hat das natürlich damit zu tun, dass wir eine reale Gefährdung erkannt haben. Aber wir dürfen nie vergessen, dass der Schutz der Bürgerinne­n und Bürger eines Landes Aufgabe der nationalen Regierung ist. Diese Pflicht können wir nicht einfach beiseitesc­hieben, sondern müssen darauf drängen, dass sie möglichst effektiv umgesetzt wird. In vielen Ländern des amerikanis­chen Kontinents ist die Menschenre­chtslage alarmieren­d. Was kann eine so kleine Institutio­n wie die CIDH dagegen tun? Wir müssen dringend unsere Sicht auf den Kontinent überprüfen. Noch vor zwei Jahren gab es die weitverbre­itete Meinung, dass sich die Region stabil entwickele und die sozialen Unterschie­de schrumpfen würden. Aber die Region ist in einem neuen Ausbruch von Gewalt gefangen und die Entwicklun­gserfolge der Vergangenh­eit sind zum Erliegen gekommen. Ein Beispiel ist die Zahl an Menschenre­chtsvertei­digern, die ermordet wurden – nirgendwo sonst auf der Welt ist die Situation so schlimm wie in Lateinamer­ika. Deshalb ist es so wichtig, dass die internatio­nale Gemeinscha­ft und die Medien wieder stärker darauf schauen, was in der Region passiert.

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Foto: AFP/Inti Ocon Gewaltmono­pol unverhältn­ismäßig eingesetzt? Nicaraguan­ische Polizeikrä­fte beim Einsatz im Viertel Monimbo in Masaya
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Foto: Martin Reischke

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