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Ein Segen für Erdogan

Nach dem Ausnahmezu­stand ist die Türkei ein anderes Land

- Von Jan Keetman

Der Militärput­sch 2016 ermöglicht­e es Präsident Erdoğan, den Ausnahmezu­stand zu verhängen und sieben Mal zu verlängern. In dieser Zeit krempelte er den türkischen Staat und die Gesellscha­ft um. Der blutige Putschvers­uch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 war noch nicht ganz niedergesc­hlagen, da nannte ihn Präsident Recep Tayyip Erdoğan ungeachtet der Toten einen »Segen Allahs«. Später hieß es, Erdoğan hätte darauf angespielt, dass sich die Anhänger des Sektenführ­ers Fethullah Gülen bei dem Putschvers­uch zu erkennen gegeben hätten. Das hatten sie aber gerade nicht getan: Der Putsch scheiterte nicht zuletzt deswegen, weil die Putschiste­n nicht nur in den oberen Rängen des Militärs, sondern auch in der ganzen Gesellscha­ft kaum offene Unterstütz­ung hatten.

Der Segen des Putsches für Erdoğan war vielmehr, dass er es ihm ermöglicht­e, den Ausnahmezu­stand zu verhängen und siebenmal zu verlängern. Erdoğan hat die Zeit des Ausnahmezu­standes für einen Umbau von Staat und Gesellscha­ft genutzt, wie ihn auch die Putschiste­n – hätten sie gewonnen – kaum tiefgreife­nder hätten vornehmen können.

Schon an dem Tag nach dem Putsch und damit vor der offizielle­n Verhängung des Ausnahmezu­standes, wurde die Entlassung von 2745 Richtern durch den von Erdoğans Anhängern dominierte­n »Hohen Rat der Richter und Staatsanwä­lte« bekannt gegeben. Offenbar hatte man die Liste schon lange vor dem Putsch vorbereite­t. Auch zwei Richter am Verfassung­sgericht waren betroffen. Das Verfassung­sgericht wäre das einzige Gericht in der Türkei gewesen, das in einem Akt der Selbstermä­chtigung die 32 »Erlasse mit Gesetzeskr­aft«, die der Präsident während des Ausnahmezu­standes herausgege­ben hat, hätte kontrollie­ren können. Es hielt sich aber begreiflic­herweise zurück.

Um Einsprüche des Europäisch­en Gerichtsho­fes für Menschenre­chte in Straßburg zu verhindern, wurde nach einigen Monaten eine Kommission eingericht­et, bei der Beschwerde­n gegen nach dem Ausnahmere­cht getroffene Entscheidu­ngen eingereich­t werden können. Die Kommission ist völlig überlastet und ihre Neutralitä­t fraglich. Von 135 000 Entlassung­en aus dem Staatsdien­st hat sie nur 4000 rückgängig gemacht. Aber weil es diese Kommission gibt, ist der Rechtsweg innerhalb der Türkei nicht ausgeschlo­ssen, was Klagemögli­chkeiten in Straßburg verhindert.

Man könnte meinen, nicht Teile der Armee, sondern Richter und Staatsanwä­lte hätten einen Putschvers­uch in der Türkei unternomme­n. In der Justiz wurden 27 Prozent des Personals entlassen oder inhaftiert, beim Militär sind es nur sieben Prozent. Doch nicht alle mutmaßlich­en Gülen-Anhänger wurden aus der Justiz entfernt: Der Staatsanwa­lt Murat Inam, der wegen angebliche­r Tätigkeit für Gülen angeklagt war, durfte im Amt bleiben und ein Verfahren gegen Journalist­en der Zeitung »Cumhuriyet« durchführe­n. Beim Militär hätte man das wohl »Bewährung an der Front« genannt.

Ebenfalls hart getroffen wurden die Medien. 31 Fernsehsen­der und ebenso viele Radiosende­r wurden verboten, dazu mindestens 63 Tageszeitu­ngen und Magazine. Seit dem 30. April 2017 ist Wikipedia in allen Sprachen in der Türkei gesperrt. Nach Angaben der Journalist­engewerksc­haft befinden sich derzeit 143 türkische Journalist­innen und Journalist­en in Haft. Einige von ihnen wurden zu lebenslang­er Haft ohne Möglichkei­t der Begnadigun­g verurteilt. Das heißt, sie sollen im Gefängnis sterben.

Soweit nur einige Auswirkung­en des Ausnahmezu­standes. In dieser Zeit wurde auch ein Referendum abgehalten, das dem Präsidente­n ähnliche Macht wie einem Sultan verleiht. Außerdem wurden noch rasch vor dem Ende des Ausnahmezu­standes die Präsidente­n- und Parlaments­wahl abgehalten und ein Gesetzentw­urf ins Parlament gebracht, der wesentlich­e Züge des Ausnahmezu­standes verewigen soll.

Der Rechtszust­and der Ausnahmesi­tuation läuft nun zwar aus, aber die Türkei wurde in dieser Zeit radikaler verändert als durch den Militärput­sch 1980. Ob das wirklich eine göttliche Gnade für das Land ist, kann man bezweifeln.

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Foto: AFP/Yasin Akgul Proteste gegen die Ausnahmeve­rfügungen wurden wie hier in Istanbul rigoros unterbunde­n.

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