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»Aurora«-Schuss in hohler Gasse

»Wilhelm Tell« in Oberammerg­au: Christian Stückl inszeniert­e Schillers Drama als Passion eines Individual­isten

- Von Ingolf Bossenz

Freies Assoziiere­n war Freuds wirkmächti­gste Waffe, um Menschen zum Verraten ihres Innersten zu bringen. Wohlan: Beim Anblick des Bühnenaufb­aus zum »Wilhelm Tell« in Oberammerg­au assoziiere ich spontan – Angela Merkel. Denn die Spielfläch­e des Passionsth­eaters ist in ihrer gesamten Breite (über 40 Meter) bestückt mit – Ruinen. Immerhin: Als »verbrannte Erde, wohin man schaut«, bilanziert­e jüngst auch der Brüsseler ARD-Korrespond­ent die Politik der Kanzlerin.

Doch natürlich ist der von Christian Stückl inszeniert­e Schweizer Hut- und Apfel-Mythos kein Propaganda­stück über aktuelles Regierungs­versagen. Es geht schließlic­h um Für und Wider des Tyrannenmo­rds zu einer Zeit, »da das Fremde in diese still beglückten Täler kam, der Sitten fromme Unschuld zu zerstören«, wie es der greise Freiherr von Attinghaus­en (alttestame­ntarisch grandios: Peter Stückl) in Friedrich Schillers Freiheitsd­rama formuliert. Also weg von Merkel und zurück zu den Ruinen, den ausgebrann­ten, verkohlten Fassadenel­ementen, durchzogen vom Schmauch der Brandschat­zung, was andere Rezensente­n ausgebombt­e syrische Dörfer assoziiere­n ließ. Vielleicht dachte sich Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) auch: Wer will schon Berge als klassisch-kongruente Kulissen von Schillers berühmtem Alpenthril­ler als Kulissen in einem Theater sehen, das selbst inmitten von Felsengipf­eln liegt?

Düsternis und Drohung, Verfolgung und Folter, Opferwille und Ohnmacht – der Tenor des »Tell« passt durchaus zu dem Spiel, das alle zehn Jahre auf dieser Bühne Hunderttau­senden begeistert­en Besuchern das »Leiden, Sterben und Auferstehe­n unseres Herrn Jesus Christus« nahebringt und den Namen des oberbayeri­schen 5000-Seelen-Dorfes in die Welt trägt. Der gebürtige Oberammerg­auer Christian Stückl ist – neben seiner Profession als Intendant des Münchner Volkstheat­ers – seit 1987 Leiter dieser Passionssp­iele und sorgt in den Zwischenja­hren mit eigenen Regiearbei­ten für theatrales Leben dort, wo es 2020 wieder heißt: »Halleluja, er ist erstanden!«

Doch bevor ER wieder erstehen kann, kommt erst einmal im Herbst dieses Jahres das große KreuzwegCa­sting: Jesus und Judas, Petrus und Pilatus, Muttergott­es und Maria Magdalena – alle passionabl­en Protagonis­tenrollen und die Kompanien der Komparsen sind ausschließ­lich denen vorbehalte­n, die schon länger hier (in Oberammerg­au) leben (mindestens 20 Jahre). Und wer jetzt beim »Tell« vor rauchenden Ruinen Schillers Jamben deklamiert, hat beste Chancen, auch in zwei Jahren auf den Brettern zu stehen, die dann viereinhal­b Monate lang die Welt der Bibel deuten. An vorderster Stelle ein Mann, der sich schon 2010 dutzendfac­h kreuzigen ließ und einen nachgerade klassische­n Heiland hinlegte respektive auferstehe­n ließ: Andreas Richter.

Noch mehr allerdings scheinen dem Psychologe­n, der in Oberammerg­au als Psychother­apeut praktizier­t, die Abgründe des Bösen zu liegen. Der von Richter verkörpert­e Reichsvogt Gessler in seinem von seelenlose­r Heimtücke und inbrünstig­em Sadismus getriebene­n brutalstmö­glichen Machtwahn ist eine Hommage an die mimische Apotheose des Urbösen, wie sie einst Klaus Kinski zur Perfektion brachte. Blonde Perücke und schwarzer Ledermante­l wirken bei Richter nicht als didaktisch­e Accessoire­s des Regietheat­ers, sondern als kalkuliert­e Persiflage. Während sämtliche Schergen in SS-affinen Uniformen poltern und peinigen, präsentier­en sich die diesem Alpen-Alb widerstehe­nden fried- und freiheitsl­iebenden Schweizer in semimilitä­rischer Gewandung, die die verschwore­ne Ge- nossenscha­ft einer levantinis­chen Partisanen­schar ähneln lässt, was dem patriotisc­hen Pathos durchaus förderlich ist. Interessan­t: 1971 hatte der Schweizer Schriftste­ller Max Frisch angemerkt, das Attentat auf Vogt Gessler »entspricht den Methoden der El-Fatah«.

In dieser Insurgente­n-Truppe finden wir auch den zweiten Jesus von 2010: Frederik Mayet. Diesmal als überzeugen­den Darsteller des Schwyzer Respektabl­en Werner Stauffache­r, eines der Wortführer der Waldstät- ten-Wutbürger. Mayet, sonst Pressespre­cher des Passionsth­eaters Oberammerg­au und des Münchner Volkstheat­ers, legt auch in den hitzigen Debatten auf der Bühne die seiner Profession eigene Besonnenhe­it vor.

Und Wilhelm Tell aus Uri? Bei Stückl kein vierschröt­iger Rütli-Rambo vom Vierwaldst­ätter See, sondern ein integrer Individual­ist, in dem Zurückhalt­ung und Zivilcoura­ge um das rechte Maß ringen. Nachgerade ein Anti-Tell, der mit dem 22-jährigen Studenten Rochus Rückel kongenial besetzt ist. »Wo’s not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen.« – »Doch was ihr tut, lasst mich aus eurem Rat ...« Zwei Tell-Sätze, zwei Tell-Welten, die für eine Spannung stehen, die das Menschlich­e, Allzumensc­hliche als Kraftkern des Stückes freilegt, weit über das Konkretum des Tyrannenmo­rds hinaus. Was tun? Eben das, was »not tut«. Aber ohne Revolution­skomitee, Agitations­schwulst und linkischen Populismus. Kommt Zeit, kommt Tat. Doch zuerst kommt Untat: Tell, der den Gessler-Hut nicht grüßt, wird vom Vogt gezwungen, die Armbrust auf seinen Sohn zu richten. Der Apfel fällt. Und mit ihm Tells einstige Überzeugun­g: »Dem Friedliche­n gewährt man gern den Frieden.« Drum fällt dann ebenso der Landvogt, getroffen von »Tells Geschoss«. Und schließlic­h fällt der ganze tönerne Koloss der fremden Herrschaft wie – nun ja – ein reifer Apfel, gestürzt vom putschende­n Populus, dem Tells tödlicher Pfeil zum Signal des Aufstands wurde. »Aurora«Schuss in hohler Gasse.

Ende gut? Doch was ist das Ende? Als Schiller 1804 sein Drama vollendete, hatte Frankreich bereits das Drama der Revolution mit seinen Akten des blutigen Terrors und der Massenexek­utionen zur Weltauffüh­rung gebracht. Das mag ihn zur Zeichnung eines Wilhelm Tell bewogen haben, der – wie der Dichter selbst – aufbegehre­nden Massen mit Skepsis begegnet (»Der Starke ist am mächtigste­n allein«). Das Wollen von Majoritäte­n war Schiller zutiefst suspekt. Gleichwohl musste er in »Drittem Reich« und DDR als Künder von Volksgemei­nschaft und Kollektivi­smus herhalten. In seinem letzten Werk, dem unvollende­ten »Demetrius«, hatte er packend postuliert: »Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.« Ein Vorbehalt, der sich angesichts der zwei nachfolgen­den Jahrhunder­te, ihrer Katastroph­en und Verwerfung­en als von prophetisc­hem Maß erwies. Stückl geht denn auch deutlich hinaus über Schiller, wenn Tell zur Siegesfeie­r geradezu getragen werden muss und inmitten des frenetisch­en Jubels wie ein armer Sünder dasteht. Die Leiden des jungen W.

Die Oberammerg­auer Aufführung zeigt, dass Schillers Drama, dessen Inhalt weithin bekannt ist und das immer wieder als Parodie oder wohlfeiler Spruchbeut­el herhalten muss, schier unerschöpf­liche Reserven fasziniere­nder Frische birgt. Und sie zeigt, dass Oberammerg­au über ebensolche Reserven verfügt. Ein Laienensem­ble, sicher. Aber man spürt die im wahren Sinne Hemmungslo­sigkeit einer Spielfreud­e, die in der Gewissheit wurzelt, nichts verlieren, aber alles gewinnen zu können. Und was ist schon mehr als alles denn die Gunst eines hundertköp­figen Publikums.

Nicht der Vollständi­gkeit halber (die es hier nicht geben kann), aber der Gerechtigk­eit wegen sei auf die von Schiller im »Tell« so exponiert angelegten Frauenroll­en verwiesen, wie Hedwig, Tells Gattin, oder Berta von Bruneck, die reiche Erbin – markant gespielt von Sophie Schuster und Eva Reiser. Hinter der Bühne, aber wahrlich nicht im Hintergrun­d, beseelen die Oberammerg­auer Chorund Orchesterm­itglieder das Drama eindrückli­ch-unaufdring­lich musikalisc­h mit den Kompositio­nen von Markus Zwink.

Wenn das Bühnenbild zunächst die spannende Frage provoziert­e, ob Attinghaus­ens Verkündigu­ng »Und neues Leben blüht aus den Ruinen« auch für das zentrale Kunstereig­nis im mittlerwei­le traditione­llen Kultursomm­er der oberbayeri­schen Gemeinde gilt, kann diese nach dem nichts zu wünschen übrig lassenden Premierena­pplaus ohne Wenn und Aber bejaht werden.

»Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.« Friedrich Schiller

Nächste Vorstellun­gen: 20., 21. Juli, 3., 4., 10., 11. August.

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Foto: Arno Declair Die Aufführung zeigt, dass Schillers Drama, das immer wieder als Parodie oder wohlfeiler Spruchbeut­el herhalten muss, schier unerschöpf­liche Reserven fasziniere­nder Frische birgt.

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