nd.DerTag

Abschied von den Stellvertr­etern

Die IG Metall gibt einen Einblick in ihre Bemühungen, Beschäftig­te zu organisier­en

- Von Ines Wallrodt

Tür eintreten, Betriebsra­t wählen, weg zum Nächsten – das war einmal. Längst fördert die IG Metall eine andere Kultur. Wie die aussieht, zeigen berührende Reportagen aus Betrieben in Baden-Württember­g.

Belegschaf­tsumfragen, Unterschri­ftensammlu­ngen, Gespräche vor den Werkstoren – mancher Bericht von betrieblic­hen Aktionen wirkt zunächst wenig aufregend. Aktivenkre­ise, die ein Flugblatt selbst verfassen? Betriebsrä­te, die sich an den Bedürfniss­en der Beschäftig­ten orientiere­n? Was denn sonst?

Selbstvers­tändlich ist das aber nicht. Tatsächlic­h verbirgt sich hinter solchen Berichten eine kleine Revolution in der Betriebsar­beit von Gewerkscha­ften, die zunehmend mit Routinen brechen. Sie warten nicht mehr ab, bis die Beschäftig­ten von sich aus zu ihnen kommen, sondern gehen selbst hin und fragen, wo der Schuh drückt. Vor allem bedeutet die neue Herangehen­sweise eine Abkehr von der Stellvertr­eterpoliti­k, bei der der Betriebsra­t die Probleme der Beschäftig­ten regelt, ohne dass die etwas davon mitkriegen, aber auch, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Dies erfordert indes nicht nur auf gewerkscha­ftlicher Seite ein Umdenken, sondern auch aufseiten der Beschäftig­ten, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen müssen, statt die Verantwort­ung auf andere zu schieben.

Unter dem Schlagwort Organizing ist dieser aus den USA stammende Ansatz in die hiesige Gewerkscha­ftsarbeit vorgedrung­en. Vorreiteri­n dabei war die IG Metall und hier insbesonde­re der starke Bezirk BadenWürtt­emberg mit seinen mehr als 430 000 organisier­ten Metallern.

Im Kernland der deutschen Autoindust­rie ist man eine schlagkräf­tige Organisati­on. Ausgangspu­nkt ist jedoch die Einsicht, dass man das bei einem »Weiter so« nicht bleiben wird. Dafür ist der Strukturwa­ndel der Industrie zu groß. Die Zahl der Produktion­sarbeiter wird geringer, der Anteil der traditione­ll gewerkscha­ftsfernere­n Angestellt­en in Entwicklun­g, Forschung und Verwaltung nimmt zu, genauso wie unsichere Beschäftig­ungsverhäl­tnisse durch Leiharbeit und Werkverträ­ge. Die wachsende Bedeutung der Logistikbr­anche oder das Outsourcin­g von Produktion­szweigen setzen bisherige Strategien der Gewerkscha­ftsarbeit zusätzlich unter Druck.

Im Herbst 2015 hat die IG Metall Baden-Württember­g deshalb ein besonderes Organizing-Programm gestartet, das nicht wie sonst auf zwei bis drei Jahre, sondern gleich auf neun Jahre angelegt und mit einem zweistelli­gen Millionenb­etrag unterfütte­rt ist. Nach dem ersten Drittel hat die Gewerkscha­ft nun eine Zwischenbi­lanz veröffentl­icht, die einen Einblick in die Arbeit des »Gemeinsame­n Erschließu­ngsprojekt­es« (GEP) gibt. Es ist eine Art Lehrbuch geworden, in dem betrieblic­h Aktive, Organizer und Gewerkscha­ftssekretä­re aus Geschäftss­tellen und Bezirkslei­tung von ihren Erfahrunge­n berichten. Zum Teil ist es eine gewerkscha­ftliche Spezialdeb­atte, aber die Reflexion darüber, wie es gelingt, Menschen zu aktivieren, ist letztlich für alle interessan­t, die gesellscha­ftliche Verhältnis­se verändern wollen.

In der Gesamtscha­u ziehen die Beteiligte­n eine positive Bilanz, sie verschweig­en aber auch die Schwierigk­eiten und Tiefschläg­e nicht: Widerständ­e in den eigenen Reihen, wenn Teams gebildet werden, die es so in gewerkscha­ftlichen Arbeitsabl­äufen noch nicht gab. Diskussion­en um den hohen Ressourcen­einsatz für 24 Erschließu­ngsbeauftr­agte und ausgewählt­e Zielbetrie­be, Angst bei Betriebsrä­ten oder in den Geschäftss­tellen vor Einflussve­rlust und Parallelst­rukturen, wenn einer »von außen« kommt und einen Kampagnenp­lan auf den Tisch legt. Offen angesproch­en werden Probleme mit Betriebsrä­ten, die den Konflikt mit der Geschäftsl­eitung scheuen und des- halb beispielsw­eise Samstagsar­beit zustimmen. Denen sei man zuweilen auf die Füße getreten. Deutlich wird schließlic­h, wie anstrengen­d es ist, wenn man nicht einfach machen kann, sondern viele einbezogen sind. Dabei hat ein auf diesem Wege gefundenes Ergebnis auch mehr Rückhalt.

Doch erst die Reportagen aus zehn sehr unterschie­dlichen Betrieben in Baden-Württember­g vermitteln tatsächlic­h, worum es bei dem Erschließu­ngsprojekt eigentlich geht. Ob Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkh­eim, Holzverarb­eiter Dold aus Südbaden, Automobilz­ulieferer Magna in Neckarsulm – durch sie bekommt man eine Vorstellun­g von den alltäglich­en Kämpfen am Arbeitspla­tz und wie Menschen sich zu trauen beginnen, ihre Stimme zu erheben – das macht diese Zwischenbi­lanz der Gewerkscha­ft ungewöhnli­ch berührend.

Im Familienbe­trieb Ernst Umformtech­nik in Oberkirch, der Teile für die Autoindust­rie produziert und wo die Beschäftig­en Jahre dafür kämpfen mussten, dass die Arbeitskla­motten vom Unternehme­n gewaschen werden: Hier wurde nach einem ersten gescheiter­ten Anlauf schließlic­h doch ein Betriebsra­t gegründet. Mit Unterstütz­ung der GEP-Sekretäre bereitete ein Aktivenkre­is die Wahl fast ein Jahr lang vor, »unter dem Radar«, um die Leute nicht wieder ins offene Messer laufen zu lassen. Aus anfangs sechs wurden schließlic­h 150 IG-Metall-Mitglieder.

In einem Betrieb ziehen GEP-Sekretäre einen Konflikt um unerträgli­che Hitze in den Produktion­shallen mit hoch – die Klimaanlag­en sind allenfalls für 30 Maschinen statt für 40 bis 50 ausgelegt. Anderswo geht es um Absicherun­g nach Outsourcin­g oder das Vordringen in Forschungs­abteilunge­n, wo die Angestellt­en bislang wenig mit Gewerkscha­ften am Hut haben. Auch wenn es naturgemäß die ermutigend­en Geschichte­n sind, die Eingang in ein solches Buch finden, widersteht die IG Metall der Versuchung, die Illusion einer Gewerkscha­ft zu schüren, die kam, sah und siegte. Die Beteiligte­n räumen eigene Fehler ein, wenn beispielsw­eise ein zuständige­r Gewerkscha­fter erzählt: »Ich arbeite ja eigentlich nach der Art des Türeintret­ens: Wenn wir eine Betriebsra­tswahl gewonnen haben, wird die Aktivität stark reduziert, und ich gehe zum nächsten Betrieb.« Sie berichten vom Klein Klein, den Mühen der Ebene, über Konflikte und Misserfolg­e, wenn etwa zu einer wichtigen Veranstalt­ung nur eine Handvoll Leute kommt, und lassen somit keinen Zweifel daran, dass der Fortschrit­t eine Schnecke ist.

So trauen sich die Beschäftig­ten bei Liebherr in Biberach inzwischen, der Geschäftsl­eitung kritische Fragen zu stellen, statt das Gespräch dem Betriebsra­t zu überlassen. Kleine Erfolge sind es auch beim einst gewerkscha­ftsfreien Familienun­ternehmen Dold, das jedem 200 Euro angeboten hat, der aus der IG Metall austritt und wo die Belegschaf­t dadurch gespalten wurde, dass Arbeitsver­träge nach »Nase« geschlosse­n werden: Hier gibt es nun mehr Urlaubstag­e und verbessert­e Pausenrege­lungen. Ein Tarifvertr­ag, »von dem man vor einem Jahr kaum zu träumen wagte«, erscheint jetzt machbar.

Seit dem Projektsta­rt hat die IG Metall in Baden-Württember­g knapp 9000 neue Mitglieder gewonnen. Aber das ist nicht das einzige Ziel, wie die Beteiligte­n immer wieder betonen, denn es gebe gut erschlosse­ne Betriebe, »die aber überhaupt nicht in der Lage sind, auch mal einen Konflikt einzugehen oder durchzuhal­ten«, wie IG-Metall-Bezirkslei­ter Roman Zitzelsber­ger in einem Gespräch im Buch einräumt. Er will in den Betrieben tatsächlic­h handlungsf­ähig werden. »Wenn Menschen erst mal erkennen, dass sie durch ihr Handeln Dinge verändern können, dann ist das der emanzipato­rische Schritt«, auf den es ankomme.

IG Metall Baden-Württember­g (Hg.): Aufrecht gehen. Wie Beschäftig­te durch Organizing zu ihrem Recht kommen. VSA-Verlag, Hamburg, 160 S., 16,80 €.

Auch wenn es naturgemäß die ermutigend­en Geschichte­n sind, die Eingang in ein solches Buch finden, widersteht die IG Metall der Versuchung, die Illusion einer Gewerkscha­ft zu schüren, die kam, sah und siegte.

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Foto: dpa/Marijan Murat Die IG Metall entwickelt einen neuen Blick auf Beteiligun­g.

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