nd.DerTag

Eine mörderisch­e Bilanz

Hans Schafranek berichtet über das unheilvoll­e Wirken von Gestapo-Spitzeln im antifaschi­stischen Untergrund

- Von Karlen Vesper

Im April 1944 nahm der Sozialdemo­krat Adolf Reichwein, Mitglied des Kreisauer Kreises, Kontakt zum Kommuniste­n Anton Saefkow auf, der nach der Zerschlagu­ng der Widerstand­sgruppen um Robert Uhrig, Wilhelm Guddorf und John Sieg in Berlin neue Kontakte knüpfte und mit Franz Jacob und Bernhard Bästlein innerhalb von zwei Jahren ein über 500 Antifaschi­sten umfassende­s Netzwerk knüpfen konnte, dem neben Arbeitern Ärzte, Lehrer, Ingenieure und Künstler angehörten. Am 22. Juni 1944 kam es zu einem konspirati­ven Treffen von Saefkow und Jacob mit Reichwein und dem vormaligen sozialdemo­kratischen Reichstags­abgeordnet­en Julius Leber. Es wurde die Einbindung der kommunisti­schen Widerständ­ler in die Verschwöru­ng um Claus Graf Schenk von Stauffenbe­rg besprochen und ein zweites Treffen vereinbart, zu dem es nicht mehr kam. Der Gestapo war es gelungen, einen Spitzel in den Kreis um Saefkow, Jacob und Bästlein einzuschle­usen. Am 4. Juli wurden Reichwein, Saefkow und Jacob verhaftet, in der Folge 280 ihrer Mitstreite­r, von denen 104 ermordet wurden.

Es ist gut, das der Festvortra­g zum diesjährig­en offizielle­n Gedenken an das Attentat auf Hitler sich dem – laut Ankündigun­g – »lange unterschät­zten« Widerstand aus der Arbeiterbe­wegung gegen die Nazidiktat­ur widmet. »Unterschät­zt« wurde dieser allerdings jahrzehnte­lang nur in Westdeutsc­hland. Selbst die konservati­ven, aus der deutschen Elite stammenden Opposition­ellen galten in der Bundesrepu­blik lange als »Verräter«. Offenbar ist endlich ein Umdenken hinsichtli­ch der Breite des deutschen Widerstand­es erfolgt, gewiss auch dank des Beharrens darauf durch die Mitarbeite­r der Gedenkstät­te Deutscher Widerstand in Berlins Stauffenbe­rgstraße. Wobei man fragen darf, warum für den Festvortra­g nicht etwa Hans Coppi, Bärbel SchindlerS­aefkow oder Annette Neumann aus der ostdeutsch­en Historiker­zunft auserkoren wurden, Kinder ermordeter Hitlergegn­er, die seit Jahr und Tag über den Arbeiterwi­derstand forschen.

Gleich der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisati­on fiel auch die UhrigGrupp­e, die nicht nur in Berliner Betrieben aktiv war, sondern Kontakte nach Essen, Hannover, Hildesheim, München und Hamburg sowie nach Prag, Kopenhagen und Tirol unterhielt, einem V-Mann der Gestapo zum Opfer. Darüber berichtet Hans Schafranek in seinem neuen Buch. Durch den 1931 nach Berlin ausgewande­rten österreich­ischen Ingenieur Leopold Tomschik konnte Uhrig Gleichgesi­nnte im 1938 von Deutschlan­d annektiert­en Österreich gewinnen. Doch bereits während seines ersten Tirol-Aufenthalt­s 1941 in Kitzbühl hat sich wahrschein­lich der Gestapospi­tzel Willi Becker, Deckname »Ernst«, an seine Fersen geheftet. Auch die Fahrt des Berliner Werkzeugma­chers mit KPD-Ausweis kurz darauf nach Wien blieb nicht unbeobacht­et. »Dass er unbehellig­t nach Berlin zurückehre­n konnte, weil die Zeit noch nicht ›reif‹ für eine Festnahme schien, war sicher auf eine entspreche­nde Anweisung der Berliner Gestapo an ihre Tiroler ›Kollegen‹ zurückzufü­hren«, vermutet der renommiert­e österreich­ische Historiker.

Am 4. Februar 1942 schlug die Gestapo zu, verhaftete zeitgleich in Berlin, München und Tirol alle führenden Köpfe, neben Uhrig unter anderem Leo Tomschik, Beppo Römer, Walter Budeus, Willy Sachse und Anton Rausch. Die sich über Wochen erstrecken­de Verhaftung­swelle erfasste 170 Hitlergegn­er, von denen 78 hingericht­et wurden. Von den 60 festgenomm­enen Tiroler Freunden der Uhrig-Gruppe wurden mindestens 16 vorm »Volksgeric­htshof« angeklagt.

»Polizeispi­tzel waren keine Erfindung der Gestapo, und sie haben die NS-Ära überdauert«, bemerkt Schafranek eingangs. Nach einem knappen Exkurs über die Geschichte des Spitzelunw­esens in Österreich, das eine »Blütezeit« unter der Ägide von Fürst Metternich erlebte, berichtet der Autor über die Einrichtun­g der Gestapo-Leitstelle Wien bereits drei Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 15. März 1938. Als Domizil wählte man das exklusive Hotel Métropole. Dienststel­len der Gestapo machten sich auch in Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt breit. Die Gestapo in Wien zählte bald mehr Mitarbeite­r als die Berliner. 1941 waren es dort 834, in Prag 812, in der »Reichshaup­tstadt hingegen 712.

Die Zahl der Spitzel und V-Männer werde, so Schafranek, wohl nie mehr exakt zu eruieren sein. Gehaltslis­ten der Gestapo von 1941 registrier­ten 14 835 »Schnüffler«, davon 4000 außerhalb des »Reichs«. Im Gegensatz zu anderen Filialen konnte sich die Wiener Gestapo auf personelle Kontinuitä­t stützen, rekrutiert­e sich auch aus den Behörden des austrofasc­histischen »Ständestaa­tes« – worin Schafranek »einen maßgeblich­en Grund für deren mörderisch­e Effizienz bei der Bekämpfung des antifaschi­stischen Widerstand­s« sieht. Die schon unter Dollfuß und Schuschnig­g erfolgreic­hen V-Leute brachten als »Startkapit­al« ihr Wissen um einheimisc­he politische Opposition­elle ein. Ein weiteres, die Wiener Gestapolei­tstelle von anderen Dienststel­len abhebendes Merkmal war die stattliche Honorierun­g der Spitzel, die das übliche Budget teils um das Fünffache überschrit­t. Besonders erfolgreic­he V-Männer, so der vornehmlic­h gegen die kommunisti­sche Untergrund­bewegung eingesetzt­e Kurt Koppel (alias »Ossi«), konnten mit einem monatliche­n Salär von 500 Reichmark rechnen, weiß Schafranek. »Selbst Herbert Behrendt, der erfolgreic­hste V-Mann des Berliner Gestapo-Kommissars Bruno Sattler, wurde für seinen Arbeitseif­er lediglich mit 140 RM entschädig­t.«

Geworben wurde nicht nur unter Berufskrim­inellen, sondern ebenso unter Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n, insbesonde­re unter aus der Partei ausgeschlo­ssenen Mitglieder­n. Teils mit Erfolg, wofür der sozialisti­sche Vize-Landeshaup­tmann des Burgenland­es Ludwig Leser sowie Anna Mönch, Gründungsm­itglied der KPÖ, beschämend­e Beispiele sind. Die Antriebe, sich mit der Gestapo einzulasse­n, divergiert­en, reichten von Gesinnungs­lumperei über finanziell­e Gier bis hin zur Angst vor neuerliche­n Repression­en unter jenen, die bereits KZ oder Zuchthaus durchlitte­n hatten, informiert Schafranek. Es gab indes auch Fälle, in der eine Kooperatio­n mit der Gestapo vorgegauke­lt wurde, zum Schutz der konspirati­ven Arbeit. Nach 1945 ist dies vielfach missinterp­retiert worden – mit tragischen Folgen. Auch die Taktik des »Trojanisch­en Pferdes«, ausgegeben von der illegalen KPD zur Infiltrati­on von NS-Institutio­nen und Organisati­onen, sollte nach der Befreiung manch tapferem Genossen zum Verhängnis werden.

Bezüglich der sozialen Zusammense­tzung zitiert Schafranek eine für das Rhein-Ruhrgebiet erstellte Übersicht, nach der Spitzel vorwiegend aus dem proletaris­chen Milieu stammten, vom Hilfsarbei­ter über Schmied, Schneider und Schlosser bis hin zur Hausfrau. Inwieweit diese repräsenta­tiv ist, sei dahingeste­llt. »Nicht alle Konfidente­n erfüllten die in sie gesetzten Erwartunge­n.« Laut Protokoll einer Besprechun­g im Reichssich­erheitshau­ptamt 1943 waren etwa 30 Prozent der V-Leute »nicht hundertpro­zentig in Ordnung«.

In speziellen Kapiteln beschreibt Schafranek die Unterwande­rung des kommunisti­schen Widerstand­s, der Revolution­ären Sozialiste­n und konservati­ver Widerstand­sgruppen. Mit Neugier liest man, was er über »geplante und realisiert­e Vergeltung­saktionen« schreibt. Die Rache für den Tod so vieler hochanstän­diger, aufrechter Frauen und Männer gelang leider selten und war teils ambivalent. So konnte zwar ein von der Gestapo-Außenstell­e Wiener Neustadt in eine Widerstand­sgruppe von Zwangsarbe­itern aus Osteuropa platzierte­r polnischer Spitzel nach der Verhaftung von vier Saboteuren enttarnt, in eine Falle gelockt und »unschädlic­h« gemacht werden. Als jedoch dessen Leiche aufgefunde­n wurde, arretierte die Gestapo auch noch die übrigen Angehörige­n der antifaschi­stischen Zelle.

Es ist ein erschütter­ndes, traurig stimmendes Buch, zugleich ein notwendige­s, historiogr­aphische Lücken füllendes. Zudem ein aktuell anmutendes ob des V-Männer-Skandals der Bundesrepu­blik, der mit dem NSUProzess offenbar wurde (und nur noch zu toppen ist, wenn gar Beate Zschäpe als V-Frau identifizi­ert wird). Unpassend ist allerdings der – wenn auch nur zahlenmäßi­ge – Vergleich zwischen Spitzeln der Gestapo und Stasi. Ob der mörderisch­en Bilanz des NSGeheimdi­enstes verbietet sich dies.

Die Antriebe für Spitzel waren Gier und Gesinnungs­lumperei, aber auch Angst.

Hans Schafranek: Widerstand und Verrat. Gestapospi­tzel im antifaschi­stischen Untergrund 1938 – 1945. Czernin-Verlag, 504 S., geb., 29,90 €.

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Foto aus dem Buch/Bildarchiv Austria Das Hotel Métropole, Sitz der Gestapo in Wien

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