Fluchtpunkt Lissabon
Sind es Männer, die Geschichte machen? Staatsmänner? Helden? Verbrecher? Revolutionäre? Entdecker? Auch Frauen selbstverständlich? Oder sind es Ideen, Überzeugungen, Strukturen, gesellschaftliche Bedingungen? Oder machen vielleicht auch Zufälle Geschichte? Zufälle, die die genannten Faktoren durcheinander wirbeln und den Menschen an eine Stelle bringen, wo er Historisches zu leisten hat? ...
Wie viele Völker Europas haben sich auch die Portugiesen zu Beginn des neuen Jahrtausends die Frage gestellt, wer aus ihrem Volk in seiner gesamten Geschichte wohl die bedeutendste gewesen sei. Die Antwort lautete: Antonio Salazar, der Diktator, der fast 40 Jahre das land regierte. Er kam auf Platz eins, weil er Portugal aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten hatte, so die häufigste Begründung. Auf Platz drei aber wählten die Portugiesen Aristides de Soussa Mendes, der gegen den ausdrücklichen Befehl Salazars Tausende vor der Verfolgung durch Nazi-Deutschland und vor dem Holocaust gerettet hatte ...
Hinter der Frage, wer oder was die Geschichte bewegt, stellt sich die vielleicht wichtigere, ob und wann es dem Menschen gestattet ist, seinem persönlichen Rechtsempfinden zu folgen, statt den Anordnungen der Obrigkeit. Diese Frage mag für Deutschland einer Klärung nahe gekommen sein, nachdem das Nazi-Reich als Verbrecherstatt anerkannt und die Verbrecher in Nürnberg und anderen Orts verurteilt wurden. Für Vichy-Frankreich dauerte die Klärung länger, für Spanien und Portugal hat sie erst begonnen. Und was ist mit den Vereinigten Staaten? Darf ein US-Bürger sich seiner Regierung widersetzen? Die Frage nach der moralischen Autonomie des Individuums, das ist zugleich die Frage nach seiner persönlichen Verantwortung, ist längst noch nicht beantwortet.
Aus dem Buch von Dierk Ludwig Schaaf »Fluchtpunkt Lissabon. Wie Helfer in Vichy-Frankreich Tausende vor Hitler retteten« (J. H. W. Dietz, 424 S., br., 32 €).