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Verselbsts­tändigung des Politische­n?

Horst Haenisch greift die bohrende Frage, wie es zum Faschismus und Holocaust kommen konnte, neu auf

- Von Marcel Bois

Der Historiker Götz Aly ist bekannt für seine provokante­n Thesen. Zuletzt erhob er gegen das renommiert­e Münchener Institut für Zeitgeschi­chte (IfZ) den Vorwurf, es habe 1964 und 1980 durch zwei Gutachten verhindert, dass eine deutsche Übersetzun­g von Raul Hilberts Standardwe­rk »Die Vernichtun­g der europäisch­en Juden« erscheinen konnte.

In eine ähnliche Richtung argumentie­rt nun Horst Haenisch. Das IfZ habe Theorien bekämpft, die den Völkermord als geplante, »intentiona­le« Handlung begriffen. Der aus Frankfurt am Main stammende Sozialwiss­enschaftle­r sieht darin den Versuch, die Masse der Mittäter in der Verwaltung und der Wehrmacht vom Vorwurf der Beihilfe zum Massenmord zu entlasten. Die Thesen des Institutes hätten es den Mördern und deren willigen Helfern ermöglicht, sich hinter dem Argument zu verstecken, nur Anweisunge­n von Vorgesetzt­en ausgeführt zu haben. Nach dem Krieg eine Standarden­tschuldigu­ng, die selbst Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, für sich in Anspruch nahm.

Doch die Auseinande­rsetzung mit dem IfZ macht nur einen Teil von Haenischs theoretisc­her Studie aus. Sein Anliegen ist es vor allem, »den immer wieder gestellten Fragen, wie es überhaupt geschehen konnte und warum es in Deutschlan­d geschah, nachzugehe­n«. Hierzu setzt sich der Autor mit verschiede­nen marxistisc­hen Autorinnen und Autoren auseinande­r und hinterfrag­t deren Ansätze, den Holocaust aus »materielle­n« Motiven – und nicht aus den Rassenidee­n der Nationalso­zialisten – heraus zu erklären. Gerade jene Er- klärungsve­rsuche, die ein ökonomisch­es Interesse des Kapitalism­us am Holocaust voraussetz­en, hält er für nicht überzeugen­d. Zugleich verortet sich Haenisch selbst in der Tradition von Karl Marx und greift in seiner Analyse auf dessen »Bonapartis­mus«Thesen zurück, in denen dieser die Möglichkei­t einer vollständi­gen Verselbsts­tändigung des Politische­n von der Ökonomie darstellte.

Einen Großteil seiner Studie verwendet er darauf, die machtpolit­ischen Voraussetz­ungen für den Holocaust zu rekonstrui­eren. Diese seien durch den Aufbau von Parallelst­rukturen in Form eines »faschistis­chen Doppelstaa­tes« möglich geworden, der den Nazis die Unterwerfu­ng des bestehende­n Beamtenapp­arats ermöglicht­e. Der Staatsappa­rat sei so nach und nach zum willigen und zugleich unverzicht­baren Helfer ihrer Vernichtun­gspläne ge- worden. In diesem Zusammenha­ng betont Haenisch, dass der Holocaust in seiner Perfektion und Systematik nicht ohne Mithilfe von staatliche­n Institutio­nen wie Finanzbehö­rden, Einwohnerm­eldeämtern, der Polizei oder der Reichsbahn möglich gewesen wäre. Erst mit der vollständi­gen Kontrolle über den Staatsappa­rat hätten die Nationalso­zialisten die Voraussetz­ungen für die Umsetzung ihrer Vernichtun­gspläne erlangt.

Der Beginn des »Polenfeldz­ugs« 1939 markierte dann den Beginn der Massentötu­ngen, die zunächst noch als Bestandtei­l von Kriegshand­lungen kaschiert wurden. Mit dem sogenannte­n Russlandfe­ldzug im Juni 1941 ging dieser Prozess dann in den allgemeine­n, uneingesch­ränkten Genozid über. Keineswegs sei der Holocaust also den Umständen des Zweiten Weltkriege­s geschuldet gewesen. Vielmehr habe es sich um die lang geplante Tat einer Bewegung gehandelt, die zuerst die organisier­te Arbeitersc­haft zerschlug und sich dann mithilfe der deutschen Beamten darauf konzentrie­rte, ihr zentrales Projekt zu verwirklic­hen: die Ermordung der europäisch­en Juden.

Haenischs Arbeit ist »nicht immer leichte Kost«, wie schon im Vorwort des Bandes gewarnt wird. Tatsächlic­h fehlt manchmal die nötige Stringenz in der Argumentat­ion, es holpert sprachlich, und gelegentli­ch setzt der Autor auch recht viel Vorwissen bei seinen Lesern voraus. Trotzdem liefert er einen empfehlens­werten Überblick über den Stand der marxistisc­hen Debatte zum Holocaust, der zweifellos zum Nachdenken und zur Weiterbesc­häftigung anregt.

Horst Haenisch: Faschismus und der Holocaust. Versuch einer Erklärung. Edition Aurora, 204 S., geb., 8,50 €.

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