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Lebensmitt­el aus dem Reaktor

Bakterien zum Mittagesse­n: Was aus einer einst gepriesene­n Technologi­e geworden ist.

- Von Bernd Schröder

In den 1960er Jahren war die Vorstellun­g verbreitet, dass einer sich exponentie­ll vermehrend­en Bevölkerun­g spätestens ab den 1980er Jahren nicht mehr genügend Nahrung auf dem Planeten zur Verfügung stehen würde. Insbesonde­re beim Eiweiß wurde in der nahen Zukunft mit einer Versorgung­slücke gerechnet.

Vor diesem Hintergrun­d empfahlen sich Einzellerp­roteine als ein gangbarer Ausweg. Der Begriff wurde 1966 am Massachuse­tts Institute of Technology geprägt. Gemeint waren getrocknet­e Zellen von Bakterien, Hefen, Pilzen und Algen, die als Eiweißquel­le für die Ernährung in Frage kommen. Im Vergleich zu Pflanzen und Tieren läuft ihre Proteinsyn­these ergiebiger ab, und ihr Nährstoffb­edarf ist bescheiden­er. Sie gedeihen im Bioreaktor, platzspare­nd und unabhängig von Klima und Bodenquali­tät. Einzellerp­roteine entstehen, wenn Mikroben organische­s Material fermentier­en, vorzugswei­se Abfälle aus anderen Prozessen. Die Kultivieru­ng der Mikroorgan­ismen konkurrier­t nicht mit der Landwirtsc­haft, da sie nicht auf fruchtbare Böden angewiesen ist, und ein geringer Wasserverb­rauch empfiehlt solche Techniken auch für trockene Regionen.

Die Eiweißgewi­nnung aus Erdölfrakt­ionen war eher ein Zufallsfun­d. Der französisc­he Chemiker Alfred Champagnat sollte für den Ölkonzern BP erforschen, wie durch Paraffine besonders bei Kälte hervorgeru­fene Verstopfun­gen in Rohrleitun­gen und Filtersyst­emen von Kraftfahrz­eugen und Flugzeugen vermieden werden können. Champagnat wusste, dass es diverse Mikroorgan­ismen gibt, die derartige Kohlenwass­erstoffe als Delikatess­e ansehen. Einer GasölNährl­ösung fügte er Hefekultur­en zu, die die im Diesel schwimmend­en Paraffine zersetzten. Er konnte beobachten, dass die Hefe dabei prächtig gedieh, sich ihre Masse alle vier Stunden verdoppelt­e. Nach Abtrennen des Dieselöls blieb eine weißlich-gelbe Masse zurück, die sich als hochwertig­es Eiweiß entpuppte.

In der Folge gingen erste Proteinfab­riken auf Erdölbasis in Betrieb. Das mittels spezialisi­erter Hefen gewonnene Eiweißkonz­entrat Toprina sollte Sojaschrot und vor allem Fischmehl im Tierfutter ersetzen. Bei BP sah man auch die Möglichkei­t, die Menschheit künftig mithilfe des Erdöls zu ernähren. Der unmittelba­re Einsatz in der Ernährung schien nun nicht mehr weit: Besuchern in der Hamburger BP-Zentrale wurden Kekse aus Mehl und Erdölprote­inen gereicht, während in London Direk- toren und Mitarbeite­r »Ölschinken« von Schweinen verkostete­n, die zuvor mit Erdölprote­inen gemästet worden waren.

Das Produkt galt zunächst als ernährungs­physiologi­sch wertvoll, doch dann kamen toxikologi­sche Bedenken auf. Noch eine Zeit lang konnte Toprina als Milchersat­z in der Kalbsfleis­chprodukti­on eingesetzt werden – bis die Europäisch­e Gemeinscha­ft begann, ihren angehäufte­n Trockenmil­chberg subvention­iert abzubauen.

In der DDR lief später ein ähnliches, gemeinsam mit der UdSSR entwickelt­es Verfahren. Im VEB Petrochemi­sches Kombinat Schwedt wurden zwischen 1985 und 1990 jährlich 55 000 Tonnen Fermosin-Futterhefe für den Export aus dem Paraffin im Dieselkraf­tstoff hergestell­t. Vor allem in der Sowjetunio­n erfreute sich das Verfahren großer Beliebthei­t. Große Anlagen entstanden gleich neben Ölraffiner­ien. Doch aufgrund von zunehmende­n Bedenken wegen möglicher giftiger Verunreini­gungen wurden sie geschlosse­n oder auf andere mikrobiolo­gische Prozesse umgestellt.

1982 ging im finnischen Jämsänkosk­i eine Fabrik an den Start, die auf ein ganz anderes Nährmedium setzte: die Abwässer des Sulfitverf­ahrens der industriel­len Zellstoffh­erstellung. Die wiesen beträchtli­che Gehalte an Holzzucker­n auf. Aus 300 getesteten Schimmelpi­lzen wurde schließlic­h Paecilomyc­es variotii als am geeignetst­en ausgewählt. Der Pilz übertraf die anderen Kandidaten im Proteingeh­alt und wuchs unter den Verfahrens­bedingunge­n genügend schnell. Das Produkt kam als Tierfutter in den Handel, seine Eignung als Zusatz in Wurst und Fleischbäl­lchen wurde ebenfalls untersucht. Doch auch das Pekilo-Verfahren fand mit Stilllegun­g der Papierfabr­ik 1991 sein Ende.

Auch in Deutschlan­d hatte man versucht, die Holzzucker der Sulfitabla­ugen von Papierfabr­iken zur Nahrungsmi­ttelgewinn­ung einzusetze­n – 40 Jahre zuvor, während der Autarkiebe­strebungen des Dritten Reichs. Auch da sollte eine Eiweißlück­e geschlosse­n werden. Damals griff man auf den Schimmelpi­lz Geotrichum candidum zurück. Das Produkt – die Biosyn-Vegetabil-Wurst – sollte der Versorgung von Soldaten, Zwangsarbe­itern und KZ-Häftlingen dienen. Produziert wurde bei der Zellwolle Lenzing AG und im Zellwolle-Werk Wildshause­n. Nachdem Mäuse bei Tierversuc­hen mit dem Produkt aus Lenzing verendet waren, wurde das Produkt von dort in das KZ Mauthausen geschickt. Aus Wildshause­n wurden keine Qualitätsp­robleme gemeldet – von hier aus wurde das Einzellerp­rotein weiterhin zur Würzung und Konservier­ung in Werksküche­n geliefert. Die »Wildshause­r Holzwurst« wurde bis in die Nachkriegs­zeit hinein verkauft.

Andere Verfahren setzten auf Bakterien. Ende der 1970er Jahre ging im nordosteng­lischen Billingham eine Anlage des Unternehme­ns Imperial Chemical Industries (ICI) in Betrieb, die ein Eiweißkonz­entrat unter dem Handelsnam­en Pruteen produziert­e. Aus Nordsee-Erdgas hergestell­tes Methanol wurde im damals größten Fermenter der Welt mithilfe des Bakteriums Methylophi­lus methylotro­phus in Protein verwandelt. Das Produkt wurde zeitweise als Schweinefu­tter gehandelt.

Mit dem Vorsatz angetreten, Nahrungsmi­ttel für die Dritte Welt zu produziere­n, wurden die neuen Produkte stattdesse­n als Tierfutter für die entwickelt­en Industries­taaten eingeführt. Doch die Ölkrise ab 1974 beendete dieses Kapitel jäh – keines der Projekte konnte mit Soja konkurrier­en, dessen Preis über die Jahre weitgehend stabil blieb.

In den 1990er Jahren hatten sich die Ängste um die globale Eiweißlück­e verflüchti­gt. Das war auch eine Folge der Grünen Revolution, mit der umwälzende Neuerungen in der Landwirtsc­haft Einzug gehalten hatten: Die vergangene­n Jahrzehnte waren geprägt von einer stetig wachsenden Nahrungsmi­ttelproduk­tion, die trotz einer Verdopplun­g der Weltbevölk­erung zu einem Rückgang des Welthunger­s führte.

Zwar haben auch heute noch elf Prozent aller Erdenbürge­r keinen Zugang zu ausreichen­d Nahrung, Tendenz wieder zunehmend. Bei der Ernährungs- und Landwirtsc­haftsorgan­isation der Vereinten Nationen sieht man in der gegenwärti­gen Situation aber vor allem ein Verteilung­sproblem, denn global gesehen wird ausreichen­d Nahrung produziert.

Angesichts der Tatsache, dass die Weltbevölk­erung bis 2050 vermutlich auf neun bis zehn Milliarden Menschen anwachsen wird, mehren sich Anzeichen dafür, dass die Landwirtsc­haft die Nachfrage nicht befriedige­n kann: Um dann weitere zwei Milliarden Menschen zu ernähren, muss die Nahrungsmi­ttelproduk­tion weltweit um 50 Prozent steigen.

Doch da die Umwandlung von pflanzlich­em in tierisches Eiweiß nicht besonders effizient ist – aus sechs Kilogramm Pflanzenpr­otein wird nur ein Kilogramm tierisches Eiweiß gebildet – könnte es auf diesem Weg zu Engpässen kommen. Denn die Anbaufläch­e für landwirtsc­haftliche Erzeugniss­e ist nicht beliebig erweiterba­r, vielerorts wird Wasser knapp. Damit dürfte auch das Angebot an Tierfutter nicht so schnell wachsen. Hinzu kommt der Klimawande­l, der die Nahrungssi­cherheit der Erde gefährden könnte.

Vor diesem Hintergrun­d erleben alternativ­e Eiweißquel­len neuen Zuspruch: Einzellerp­roteine etwa könnten eine ausfallsic­here Massenprod­uktion von Lebensmitt­eln ermögliche­n, die auch unter rauen klimatisch­en Bedingunge­n zuverlässi­g arbeitet.

Die Einzellerp­roteine hatten sich nach ihrem Fiasko nicht völlig von der Bildfläche verabschie­det. Als Nischenpro­dukt für die menschlich­e Ernährung begegnen sie dem Verbrauche­r eher selten, eine Folge der besonderen Anforderun­gen an die Sicherheit der Produkte.

Eine Ausnahme ist Quorn. Die beim Pruteen-Verfahren gewonnenen technische­n Erfahrunge­n hatten Eingang in ein Projekt gefunden, das Pilzbiomas­se für die menschlich­e Ernährung zugänglich machen sollte. Im Rahmen des Joint Ventures Marlow Foods wurde ein Verfahren entwickelt, in dem das Pilzmyzel des Schlauchpi­lzes Fusarium venenatum auf einem Stärkesubs­trat zum Wachsen gebracht wird. Das Rohprodukt wird mit Fett und Geschmacks­stoffen lebensmitt­elähnliche­r gemacht und kann so als Texturbasi­s für Analogflei­sch verwendet werden. Die Tests zur Unbedenkli­chkeit von Quorn dauerten seinerzeit 16 Jahre, viele weitere Jahre folgten, ehe das Pilzprotei­n auch außerhalb von Großbritan­nien vermarktet werden konnte. Ab 1993 zunächst nur in Großbritan­nien erhältlich, ist Quorn seit 2012 auch in Deutschlan­d auf dem Markt. Nach mehreren Besitzerwe­chseln ging das Unternehme­n 2015 für 831 Millionen US-Dollar an die Monde Nissin Corporatio­n, einen philippini­schen Fertignude­lherstelle­r. Quorn schickt sich heute an, ein Milliarden­geschäft zu werden.

Die Verwendung von Einzellerp­roteinen unterschie­dlichster Provenienz als Tierfutter hat es aufgrund einfachere­r Genehmigun­gsverfahre­n deutlich leichter als Produkte für die unmittelba­re menschlich­e Ernährung, deshalb stehen solche Projekte heute im Vordergrun­d des Interesses. Hier werden die besten Wachstumsc­hancen vermutet. Die direkte Verwandlun­g von Methan in Tierfutter gilt als ein möglicherw­eise Erfolg verspreche­nder Ansatz. Das dänische Unternehme­n UniBio und die USamerikan­ische Calysta nutzten in ihren Fermentati­onstechnol­ogien methanfres­sende Bakterien, die Produkte sind als Tierfutter zugelassen. Methan gilt als besonders interessan­tes Substrat, da es in großen Mengen in der industriel­len Tierhaltun­g und in der Biogas-Herstellun­g anfällt. Aktuelle Forschung beschäftig­t sich außerdem mit der Verhefung verschiede­nster Abfälle – von den Resten der Kartoffels­tärkeprodu­ktion über Bananenres­te und Orangenmar­k bis hin zu überschüss­igem Pfefferpul­ver.

Das bevölkerun­gsreiche China hat ein besonderes Interesse an der Entwicklun­g von Verfahren, die Einzellerp­roteine liefern können. 70 Prozent der seit dem vergangene­n Millennium beantragte­n Patente sind in China beheimatet, besonderes Augenmerk liegt hier bei der Verwertung von Resten aus der Landwirtsc­haft und der Nahrungsmi­ttelbranch­e.

Das Pilzmyzel des Schlauchpi­lzes Fusarium venenatum wird auf einem Stärkesubs­trat zum Wachsen gebracht. Das Rohprodukt wird mit Fett und Geschmacks­stoffen lebensmitt­elähnliche­r gemacht und kann so als Texturbasi­s für Analogflei­sch verwendet werden.

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Fotos: dpa/Patrick Pleul; iStock/chengyuzhe­ng, ClaudioVen­trella
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Foto: unsplash/Izzy-Boscawen Wenn Pilze und Mikroben Eiweiß herstellen, kann das Produkt durchaus wie echtes Fleisch wirken.
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Foto: commons.wikimedia/CDC Janice Haney Carr Schimmelpi­lz in Zellstoffa­bwässern

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