Ahoj – ist das die Konterrevolution?
Mit dem Blauhemd in Berlin, zum Beatles-Film in Prag – ein paar fast unschuldige Erinnerungen an 1968
Geschichte ist das, was bleibt. Was blieb vom Sommer 1968? Bei vielen die Erinnerung an den Versuch eines anderen Sozialismus. Und damit an verlockende Utopien. Fred und Anna – so ähnlich hießen die beiden – lebten in Prag. Der angeblich goldenen Stadt. Drei Zimmer im Neubau; auf dem Parkplatz vor dem Haus stand ein kleiner gebrauchter Renault namens »Ringo«. Die beiden waren Journalisten und daher eng mit meinen Eltern, also Kollegen, befreundet. Fred und Anna hatten eine Tochter, nennen wir sie Danka. Sie war kaum älter als ich und sprach ein beinahe fehlerfreies Deutsch. Daher war es auch kein Problem, dass wir uns Briefe schrieben. »Wie geht es Dir, mir geht es gut …« Die Adresse, die ich damals auf Briefkuverts schrieb, habe ich noch immer im Kopf: Praha 10, Namesti kubanske revoluce. Den Platz gibt es noch, nur: Kuba muss auf dem Straßenschild seit der tschechischen Rückwärtsrolle nach 1990 ohne Revolution auskommen.
Irgendwann tauschten Danka und ich Pioniertücher. Ich band mein blaues gemeinsam mit ihrem roten um den Hals. Natürlich nur zu besonderen Anlässen. Das war damals an DDR-Schulen gern gesehen, wenngleich rote Tücher von Kindern aus Moskau, Leningrad oder Taschkent ungleich wertvoller waren als die aus anderen sozialistischen Staaten. Einerlei, mir gefiel das Tuch von Danka.
Wir schrieben uns nicht nur, ab und zu sahen wir uns auch. Ihr Vater hatte Verwandtschaft in der Gegend von Weimar. Und Prag war immer eine Reise wert. Doch im Frühjahr und Sommer 1968 entwickelte sich die tschechoslowakische Hauptstadt zum beliebtesten Reiseziel junger DDR-Bürger. Zu Hunderttausenden fuhren sie in das Nachbarland. Allein im Juni kamen 244 000 DDRBürger in die ČSSR. So registrierte es die Zollverwaltung – und die kontrollierte genau.
Aus Kindern waren inzwischen Jugendliche geworden und plötzlich schien es mir, als spreche keine Zweite auf der Welt den obligatorischen maritimen Gruß der tschechischen Nicht-Seefahrernation so verzaubernd aus wie Danka: »Ahoj.« Nein, nein, da war nie etwas. Wie auch? Danka hatte ja nur den für meinen Geschmack grusligen Waldemar Matuška im Kopf. Sie schenkte mir sogar Platten des bärtigen Schlagersängers. Ich mochte sie nicht hören, ging aber dennoch gerne mit ihr ins Prager Semafor-Theater, wo im Frühjahr ’68 auch Matuška auftrat. So wie die junge Helena Vondráčková, auch eine Sängerin, die aber aus Publikumssicht leider einem gewissen Václav Neckář, einem Kollegen, versprochen schien. Schwärmerei? Oberflächliches Zeug? Klar. Ich war 16 und begann ja erst, die Welt zu verstehen.
Was wusste ich schon? Jedenfalls nicht viel über diese Kleinkunstbühne am Prager Wenzelsplatz, die von ihren Gründern Jiří Suchý und Jiří Šlitr von Anfang an jenseits gewohnter sozialistischer Kulturpolitik geleitet wurde. Mir gefiel einfach, was da lief. Es gab Jazz, Schlager, Blues und Rock. Auch Kabarett, was ich freilich trotz Dankas Hilfe kaum verstand. Wie so vieles in dieser Zeit. Innerhalb eines Jahres war Prag eine andere Stadt geworden. Grundsätzlich frühlingshafter, lebendiger. Seltsam, was einem so im Gedächtnis bleibt: In Prag gab es sogar emaillierte Kochtöpfe in Rot, Blau, Gelb und Grün. Symphonia-Zigaretten waren billig, das Bier war unvergleichlich gut.
Noch erstaunlicher: Die führenden Politiker – Generalsekretär Alexander Dubček, Ministerpräsident Oldřich Černík, der Wirtschaftsmann Ota Šik oder Parlamentspräsident Josef Smrkovský – waren im Schnitt 30 Jahre jünger als die Mitglieder des SED-Politbüros und konnten, ohne Floskeln abzulesen, ganz selbstverständlich auf der Straße mit Bürgern reden. An Kiosken standen Menschen nach Zeitungen an, die seit März 1968 ohne Zensur erschienen. Korruption wurde angeprangert, man begann, die eigene Vergangenheit, die sich nicht allzu sehr von der in der DDR unterschied, aufzuarbeiten. Vor Schaukästen einiger Redaktionshäuser bildeten sich Diskutierkollektive – unvorstellbar an der sozialistischen Spree.
Auch Fred und Anna hatten nach der Arbeit plötzlich wieder Lust an fairem Streit, miteinander und mit den deutschen Freunden. Anna unterschrieb das »Manifest der 2000 Worte«, mit dem sogenannte Irrtümer des Sozialismus benannt und ge- sellschaftliche Reformen beflügelt werden sollten. Fred war aus – wie ich damals nur ahnte – leidvoller Erfahrung bedächtiger. Er traute dem Sozialismus jede Art Stalinismus samt Slánský-Prozessen zu, nicht jedoch dauerhafte Menschlichkeit.
Die Tschechoslowakei fand auf ihrem Weg zum Sozialismus mit menschlichem Antlitz keine Solidarität bei den sogenannten Bruderstaaten. Die drohten immer unverhohlener. Nach einem Manöver Anfang Juli 1968 blieben die Truppen des Warschauer Vertrags länger als geplant im Land.
Wie unbekümmert dagegen streiften wir jungen Leute durch den Pra- ger Frühling. Danka sagte: »Komm, wir gehen ins Kino.« Sie spielten »Help«, diesen durchgeknallten Film der Beatles. Ich kannte alle ihre Songs. Dass SED-Chef Walter Ulbricht »dieses monotone Je-Je-Je« der Liverpooler Band als »Dreck« bezeichnete, machte mir den »Freund der Jugend« nicht sympathischer. Im Prager Kino war ich mir noch sicher: Wenn ich das daheim in meiner Klasse erzähle, bin ich der King! Denn über die Beatles ging nichts – abgesehen von dem nervigen Störgeräusch, mit dem die DDR das Programm des Westberliner Senders RIAS Berlin zu torpedieren pflegte.
Habe ich dann, heimgekehrt nach Berlin, über den Beatles-Film und meine sonstigen Erlebnisse in Prag gesprochen? Ich weiß es nicht mehr. Doch wenn, dann ganz sicher nur mit wenigen Freunden. Denn von Berlin aus betrachtet war in unserem Nachbarland die Konterrevolution auf dem Vormarsch. Das DDR-Fernsehen und die Zeitungen berichteten täglich üppig. Die Zentralorgane der anderen sozialistischen Staaten – »Prawda«, »Tribuna Ludu«, »Népszabadság« und andere – druckten ihre immer bedrohlicher wirkenden Warnungen vor dem falschen, pluralistischen Kurs der Prager Führung wechselseitig nach.
Das »Neue Deutschland« attackierte die Revanchistenverbände in Westdeutschland, die unser Bruderland und damit Dankas Zukunft wieder dominieren wollten. Wo steht da ein Heranwachsender, der das Blauhemd der FDJ gerne trägt, das Abitur anstrebt und bereit ist, vor dem Studium drei Jahre in der Nationalen Volksarmee zu dienen, damit der US-geführte, aggressive Imperialismus keine Chance zum Rollback bekommt?
Wer nachblättern mag, findet im nd-Archiv eine Reihe von nicht namentlich gezeichneten »analytischen« Artikeln, in denen die damalige Strategie des Imperialismus gegenüber der ČSSR klassenmäßig entlarvt und die dortige Arbeiterschaft zur Einheit aufgerufen wird. DDRWerktätige schrieben bestellte Leserbriefe, darin hoffend, die Kollegen auf der anderen Seite des Erzgebirges würden zur Vernunft und in die Gemeinschaft der historisch Sieghaften zurückkehren.
Ich erinnere mich nicht, dass die Lehrer an meiner Erweiterten Oberschule das Gespräch darüber mit ihren Schülern suchten. Wohl aber tauchen in meiner Erinnerung – 50 Jahre nach dem Geschehen – schemenhaft Presseberichte auf, wonach Umstürzler von außen bereits Mord und Totschlag in der ČSSR planten. So- gar Panzer hätten die USA ins Bruderland geschafft, wurde im Juli 1968 enthüllt. Dass mit den paar alten Sherman-Fahrzeugen und per Vertrag mit den Prager Barrandov-Studios nur die Geschichte der »Brücke von Remagen« verfilmt werden sollte, schien nicht glaubhaft. Vielmehr handele es sich, so kommentierte ein gestandener ND-Journalist, der Jahre später mein Chef werden sollte, »nicht um Filmrequisiten, sondern um gefährliche Requisiten der Konterrevolution«. Unzählige Bürger in der DDR und anderen sozialistischen Ländern würden mit Sorge darauf warten, »dass das Prager Innenministerium endlich Licht in das verlogene Dickicht von Dementis, Gegendementis, Spekulationen und Halbwahrheiten bringt«. Sonst ...
Das »Sonst« ist rasch erzählt. Unsere Familien trafen sich im August 1968 das letzte Mal, um von Prag aus in den Urlaub nach Ungarn zu fahren. Wir ins Bakony-Gebirge, die drei Freunde hatten am Balaton im internationalen Journalistenheim gebucht. Kaum waren wir angekommen, überfluteten am 21. August Panzer der Warschauer-VertragsTruppen die ČSSR. Wir konnten nicht zueinander. Als die »Hilfsmaßnahmen« der Bruderländer angelaufen waren, wurden die Straßen abgeriegelt und damit auch unsere Freundschaft gekappt. Später erfuhr ich, dass Fred, Anna und damit auch Danka von frisch rückgewandelten tschechoslowakischen Genossen wie Aussätzige behandelt wurden.
Irgendwie hatten wir uns die Zukunft in einem neuen Sozialismus ein wenig anders vorgestellt. Ahoj, Danka. Dein Halstuch gibt es noch.
Erstaunlich: Die führenden Politiker der ČSSR waren im Schnitt 30 Jahre jünger als die Mitglieder des SEDPolitbüros und konnten, ohne Floskeln abzulesen, ganz selbstverständlich auf der Straße mit Bürgern reden. Von Berlin aus betrachtet war in unserem Nachbarland die Konterrevolution auf dem Vormarsch.
Das DDR-Fernsehen und die Zeitungen berichteten täglich üppig. Die Zentralorgane der anderen sozialistischen Staaten druckten ihre immer bedrohlicher wirkenden Warnungen vor dem falschen, pluralistischen Kurs der Prager Führung wechselseitig nach.