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Die Diktatur der Ausrufezei­chen

Welchen Nerv trifft der Roman »Das Feld« von Robert Seethaler, der seit Wochen an der Spitze der Bestseller­liste steht?

- Von Christian Baron Robert Seethaler: Das Feld. Hanser Berlin, 240 S., geb., 22 €.

Mit den Jahren trocknet das Hirn aus. Gut ist, dass man im Laufe der Zeit leichter wird: »Das schwerste sind nämlich die Gedanken, und die bleiben zunehmend weg. Vieles löst sich ganz von alleine. Eigentlich alles.« So sieht es Annelie Lorbeer, die im Alter von 105 Jahren gestorben ist und jetzt ihre ewige Ruhe auf dem Paulstädte­r Friedhof unterbrich­t. Sie ist eine von 29 Toten, die in Robert Seethalers neuem Roman »Das Feld« zu lakonische­n Monologen ansetzen. So unterschie­dlich diese Kleinstädt­er gewesen sein mögen, ihre Reden aus dem Grab heraus eint die Suche danach, was auf dem Grund ihrer Existenz lag.

Das Buch des österreich­ischen, in Berlin lebenden Schriftste­llers steht seit Wochen auf Platz eins der »Spiegel«-Bestseller­liste – jenem Ort, der ansonsten reserviert ist für die neuen Werke internatio­naler Starautore­n wie Stephen King und J. K. Rowling, für skandinavi­sche Thriller oder für Werke zum Wohlfühlen. Welchen Nerv trifft dieses unaufgereg­t erzählte, melancholi­sche Prosastück ohne echten Plot? Zumal es bei Seethaler nicht in erster Linie um das im Sachbuchse­gment derzeit so verkaufstr­ächtige Thema des Sterbens geht. Nein, in der Rahmenhand­lung spaziert ein alter Mann über den fiktiven Friedhof, den die Einheimisc­hen »Das Feld« nennen. Er fragt sich, was all die Leute unter der Erde wohl heute zu sagen hätten, von denen er so viele persönlich kannte.

Und dem Senior schwant, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen könne, wenn er »sein Sterben hinter sich gebracht« habe. »Als junger Mann«, so steht es schon im ersten Kapitel, »wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzuge­winnen«. In Seethalers über mehr als 200 Seiten hinweg auf genau diese Weise in den Stimmen der Verstorben­en sich fortsetzen­dem Klageton könnte der entscheide­nde Hinweis liegen, der den kommerziel­len Erfolg des Buches erklärt.

Der Soziologe Hartmut Rosa hat sich 2005 mit seiner Gesellscha­ftsdiagnos­e zur Beschleuni­gung aller Lebensverh­ältnisse einen Namen gemacht. Wenn im gegenwärti­gen, auf Wachstum und Dynamik angewiesen­en Wirtschaft­ssystem alles beschleuni­gt und verdichtet werde, so Rosa, dann könne es sein, dass immer mehr Leute diese Beschleuni­gung als Zumutung erleben. Die weite Welt sei den Bewohnern demokratis­cher Staaten heute zum Greifen nah – aber sie sei verstummt. Was den sozialen Beziehunge­n im Zeitalter der Beschleuni­gung fehle, das sei eine Resonanz.

Für Rosa bemisst sich der Wert eines Lebens nicht in der Anhäufung von Ressourcen, Optionen und Glücksmome­nten, sondern in der Qualität der Anerkennun­gs- und Antwortbez­iehungen zur Welt. Wer sich in den sozialen Netzwerken im Internet herumtreib­t, sieht sich in jeder Filterblas­e mit Aggression und Selbstgere­chtigkeit konfrontie­rt. Auch im realen Leben – bei der Partnersuc­he, im Beruf, auf Studentenp­artys, beim Jobcenter – regiert die Diktatur der Ausrufezei­chen, die jeden abhängt, der zu langsam, zu ernsthaft, zu leise, zu nachdenkli­ch, zu bescheiden, zu uncool auftritt. Der Lärm der Zeit lässt keine Zwischentö­ne mehr zu, weil das postmodern­e Leben für viele ein Prozess des Abhakens von Stationen ist, in dem die Erfolgreic­hen selten innehalten, zögern oder zweifeln.

Bei Seethaler berichten die Figuren von ihren irdischen Sorgen und Erlebnisse­n. Sie fahnden nach der Essenz ihres Daseins und grübeln grantelnd, was bleibt von ihrer kurzen Zeit auf dieser Erde, die bestimmt war von Zwängen, angesichts derer sie sich im Rückblick fassungslo­s fragen, wie sie sich das nur gefallen lassen konnten. »Solange man lebt, ist immer noch etwas zu machen«, sagt der flanieren- de Mann am Ende; und ob Seethaler es nun so wollte oder nicht – er hat damit auf den letzten Seiten seines Romans einen Satz ersonnen, der als Aphorismus zur Beschreibu­ng jenes flexiblen Kapitalism­us taugt, den sein Personal zuvor am Beispiel verschiede­ner persönlich­er Schlaglich­ter erkundet hat.

Neben dem tätigen Leben, wie es Rosa analysiert, enthalten diese Worte auch eine paradigmat­ische Hülle. In seinem auf vier Bände angelegten Werk »Homo sacer« (lat. »Heiliger Mensch«) entwickelt der italienisc­he Philosoph Giorgio Agamben die These, dass die permanente Intensität­ssteigerun­g in der globalisie­rten Welt den Menschen auf sein »nacktes Leben« reduziere. Die Politik kenne heute keinen anderen Wert mehr als diesen, die Herrschend­en seien sozusagen zu Ärzten geworden. Laufend gebe es neue körperregu­lierende Maßnahmen wie Alkohol- und Rauchverbo­te, um den heiligen Wert des gesunden Leibes zu betonen.

Wer das bei der Lektüre im Bewusstsei­n trägt, den verwundert nicht, dass bei Seethaler ausgerechn­et das Kapitel der früheren Tabakwaren­verkäuferi­n Sophie Breyer aus einer in einem einzigen Wort ausgedrück­ten Feststellu­ng besteht: »Idioten.« Das Leben, so Agamben, rücke in den Einzugsber­eich der Macht, wobei die starke Betonung der Souveränit­ät des nackten Lebens über das Selbst immer auch die Kehrseite in sich berge: das als unwert betrachtet­e Leben. Zwischen Demokratie und Despotismu­s zeige sich im Umgang mit den Schwächste­n eine innere Solidaritä­t, wenn Menschen danach beurteilt werden, welche Leistung sie erbringen und ob sie »der Gemeinscha­ft zur Last fallen«.

Es ist genau diese Logik, der die Protagonis­ten in »Das Feld« zu Lebzeiten auf den Leim gegangen waren. Sei es Lennie Martin, der sich ob seiner Spielsucht selbst geißelt, oder aber Hilde Friedland, die auf 67 Liebhaber im Laufe ihres Lebens kommt und sich nicht so recht erklären kann, warum sie eigentlich immer wieder neue Männer zu brauchen glaubte. War es die ständige Suche nach einem optimalen, ja optimierte­n Leben? War es die Einsamkeit wegen einer fehlenden Antwortbez­iehung zur Welt?

Unerbittli­ch zeigen sich die Umstände in diesem Buch auch, wenn jemand die Erwartunge­n anderer beiseitege­schoben hat. Gerd Ingerland brach beispielsw­eise nach dem Tod seines Vaters sein Studium ab, ging zurück nach Paulstadt, wurde Versicheru­ngsmakler, heiratete eine Kollegin – und die betrog ihn später mit dem Intimfeind aus Jugendtage­n. Ein Schmerz, von dem er sich nie erholte. Der Lokaljourn­alist Hannes Dixon, der eigentlich ein erfülltes Berufslebe­n hatte, zetert im Nachhinein: »Ich habe getan, was ich konnte. Nichts von dem, was ich druckte, ging um die Welt, alles blieb in Paulstadt.« In beiden Leben schnappte sie zu, die Falle der poetischen Gerechtigk­eit im Sinne des beschleuni­gten »Homo sacer«.

Gerade die von Hartmut Rosa diagnostiz­ierte Tendenz zu Wachstum und Dynamisier­ung, die den Wohlstand in westlichen Demokratie­n überhaupt erst erzeugt hat, bringt die Menschen offenbar dazu, sich die von Giorgio Agamben beschriebe­ne Verwertung­slogik einzuverle­iben. Alle Figuren in Seethalers Roman scheinen das intuitiv zu wissen. Erst nach ihrem Ableben begehren sie dagegen auf, indem sie der unausweich­lichen Vergeblich­keit ihres Tuns einen Trotz entgegense­tzen, der sich beim Lesen tröstend anfühlt.

Mit niemand sonst als Annelie Lorbeer lässt sich dieses Empfinden in einfache Worte fassen: »Der Tod bleibt sich für alle gleich.« Im Grunde, sagt sie, verstehe sie nichts von der Liebe, und vom Leben wisse sie nur, dass man es zu leben habe. »Aber immerhin«, resümiert sie, »habe ich jetzt vom Sterben eine Ahnung: Es beendet die Sehnsucht, und wenn man stillhält, tut es gar nicht weh.«

Der Lärm der Zeit lässt keine Zwischentö­ne mehr zu, weil das Leben ein Prozess des Abhakens von Stationen geworden ist, in dem Erfolgreic­he selten innehalten, zögern oder zweifeln.

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