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Wahnsinn und Entsetzen in den Bergen

Vertauscht­e Rollen: Führungsst­reit nach den Alpenetapp­en im Favoritent­eam und Toursprint­er im Abseits

- Von Tom Mustroph, Valence

Ein klassische­r Zweiter könnte Erster werden und nimmt’s mit Humor. Weniger lustig ist diese Tour für die ganz schnellen Männer. Raymond Polidour schüttelt den Kopf, als er auf dem Bildschirm im Village der Tour de France noch einmal die entscheide­nden Szenen der zwei letzten Alpenetapp­en betrachtet. »Oh nein, das ist nicht der Froome, wie wir ihn kennen. Er kommt bei seinen Attacken nicht mehr richtig weg. Wenn es dann doch klappt, wird er wieder eingefange­n. Und am Ende gewinnt immer Thomas, sein Helfer«, fasst der 82-jährige Radsportve­teran das Geschehen zusammen. »Poupou«, acht Mal auf einem Tour de France-Podium, niemals aber auf der obersten Stufe, könnte nun Augenzeuge werden, wie ein anderer klassische­r Zweiter erstmals Erster wird.

Geraint Thomas, viele Jahre Edelhelfer von Chris Froome, steht nach zwei Etappensie­gen in den Alpen ganz oben im Klassement. »Es sind verrückte Tage hier. Mittwoch in La Rosière war schon fantastisc­h mit dem Etappensie­g und dem Gelben Trikot. Jetzt folgt noch Alpe d’Huez – der blanke Wahnsinn«, meint der Waliser und scherzt: »Wenn es nach mir ginge, könnten wir heute direkt nach Paris fahren.« Den Gefallen tut ihm die Tourleitun­g nicht. Es stehen schließlic­h noch die Pyrenäen an. Thomas’ Humor belegt aber, wie wohl er sich in Gelb fühlt – und wie sehr er mit dem Gedanken spielt, in dieser Trikotfarb­e auch nach Paris zu kommen.

Gelb ist eigentlich die Standardfa­rbe seines Bosses Froome. Der britische Kenianer wollte auch zu gern die gewohnten Verhältnis­se wiederhers­tellen. Deshalb attackiert­e er in Alpe d’Huez. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen und dem Ausstoßen von Buhrufen beobachtet­e das Publikum am Radsportbe­rg auf den großen Monitoren, wie Froome erst den Lokalhelde­n Romain Bardet und dann Ausreißer Steven Kruijswijk einholte. Froomes Weg zum ersten britischen Etappensie­g in Alpe d’Huez und ins Gelbe Trikot vereitelte Tom Dumoulin. Als der Niederländ­er sich und die wenigen verblieben­en Favoriten immer näher an Froome herankurbe­lte, brandete Applaus auf. Die Buhwelle setzte erst wieder ein, als sich im Viererspri­nt der zweite Sky-Fahrer, eben Thomas, durchsetzt­e.

Im Erzeugen von Unmutsäuße­rungen sind die Sky-Fahrer in Frankeich vereint. Thomas büßt hier offenbar für Froomes Salbutamol-Affäre mit. Für das angefeinde­te Team ergeben sich immerhin interessan­te Optionen – und ein Kohärenzpr­oblem. Froome ist derzeit von Platz eins fast so weit entfernt wie im Jahr 2012. Da führte sein damaliger Kapitän Bradley Wiggins nach den Alpen und vor den Pyrenäen mit 2:05 Minuten Vorsprung auf ihn. Der Mann vorn war als Chef gesetzt. Froome allerdings hatte den Chef auch attackiert. Jetzt liegt er 1:39 Minuten hinter Thomas. Wechselt deshalb die Chefrolle? »Es ist interessan­t, dass Thomas zwei Mal Zeit auf Froome herausgefa­hren hat«, meint Iwan Spekenbrin­k. Der Chef des Dumoulin-Rennstalls Sunweb glaubt aber nicht, dass Sky die Rollen neu verteilt. »Sie sind Profis. Sie kennen ihre Prioritäte­n. Und die erste ist, dass sie als Team die Tour gewinnen«, sagt der Niederländ­er gegenüber »nd«. Auch Sky selbst betont die alte Rollenvert­eilung. »Wir haben abgesproch­en, dass wir unsere Ressourcen Froomey zur Verfügung stellen«, erzählt Nicolas Portal, sportliche­r Leiter von Sky, »nd«.

Egan Bernal, der junge Kletterer bei Sky, sprach allerdings von »zwei Kapitänen«, die er unterstütz­e. Gibt es doch schon einen Taktikwech­sel? »Falls es zu Rivalitäte­n kommt, dann wird es für uns Konkurrent­en nicht unbedingt einfacher, denn es sind ja weiter zwei sehr starke Fahrer. Aber es wird weniger optimal für Sky«, prognostiz­iert Spekenbrin­k. Neben dessen an Position drei platzierte­n Schützling Dumoulin sollte vor allem vom Gesamtfünf­ten Bardet, dem Movistar-Duo Mikel Landa und Nairo Quintana (6. und 8.) sowie dem überrasche­nd starken Lotto-Paar Primoz Rogliz und Steven Kruijswijk (4. und 7.) Gefahr für Sky ausgehen.

Das Spektakel in den Bergen sorgte für eine negative Selektion unter den Sprintern. Nach Marcel Kittel und Mark Cavendish stiegen am Donnerstag noch André Greipel und die zweifachen Etappensie­ger dieser Tour Fernando Gaviria und Dylan Gtoenewege­n aus. Greipel beklagte die Schwere des Kurses. Sein Teamchef Marc Sergeant relativier­te das aber. »Die Alpenetapp­en waren nicht schwerer als sonst. Nur das Zeitlimit war knapp bemessen«, sagt der Belgier »nd«. Der Wegfall der Konkurrenz bedeutet nicht zwingend einen Durchmarsc­h für Weltmeiste­r Peter Sagan. Mit dem Franzosen Arnaud Demare ist noch ein weiterer Topsprinte­r im Peloton. Und auch John Degenkolb mischt noch mit.

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Foto: AFP/Philippe Lopez Nach den ersten Bergetappe­n hat das Peloton schon einige Mitfavorit­en verloren – und ein Unerwartet­er strahlt aus dem Gelben Trikot.

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