Gelobt seien die Kletten im Fell
Schriftsteller Feridun Zaimoglu spricht über Heimatliebe, Ethno-Nischen, Gottes Schönheit. Sein Ko-Autor Günter Senkel hat Fragen an den Polizeistaat.
Feridun Zaimoglu ist einer der schillernden Schriftsteller Deutschlands: so kantig wie charmant, so barock wie klar. Zum Gespräch kommt auch sein langjähriger Ko-Autor Günter Senkel. Am Freitagabend war bei den Nibelungenfestspielen vorm Dom zu Worms die Premiere ihres neuen Stücks »Siegfrieds Erben«. Das sagenhafte Burgund erneut als Quellort unsäglicher Geschichte. Schwüre, Schwert und Schrecken: Dramatik aus dem Geist Shakespeares. Ein Interview von Hans-Dieter Schütt.
Feridun Zaimoglu, nach eigenen Worten schreiben Sie aus Angst, ein Mensch zu sein. Was heißt das: Angst?
Zaimoglu: Unser Leben besteht aus viel toter Zeit. Jeder hat seine Geläufigkeiten und Gewohnheiten, jeder steckt fest in seiner Haut. Haut wehrt ab. Aber nicht nur die Haut ist eine Barriere gegen Erreger – andere Menschen sind auch Erreger. Gegen die wir uns ebenfalls schützen – indem wir möglichst all das in der Kammer lassen, was uns angreifbar machen könnte. Die Albträume, die Schwächen, die Verwirrtheit, das verbergen wir.
Und nennen es Leben.
Zaimoglu: Alles läuft so vor sich hin. Bloß nirgends anstoßen. Aber das ist nicht wirklich Leben.
Ein geltender Mensch ist also nach landläufiger Praxis, wer sich verstellt? Tot in toter Zeit.
Zaimoglu: Und davor habe ich Angst. Und dagegen schreibe ich. Zu einem zivilen Leben gehört, sich als gefasste Person auszugeben. Das ist aber nur eine Maske – die oft genug mit dem Gesicht verschmilzt. Und wehe, man risse daran.
Man fürchtet sich, schutzlos zu werden.
Zaimoglu: Und das will ich nicht akzeptieren: fremd in eigener Haut zu sein. Angst habe ich vor der Maske – aber ebenso Angst vor dem wahren Gesicht. Wirkliches Leben ist: Verunsicherung. Wir fürchten uns vor dem Blick in einen mit schlechtem Atem beschlagenen Spiegel. Also flüchte ich mich ins Schreiben. In der Literatur wird die tote Zeit zensiert, man will ja nicht langweilen – also lügt auch der Roman. Dennoch greift er unsere Methoden an, die wir täglich anwenden, um nicht wahnsinnig zu werden an der Welt. »Siegfrieds Erben«, das neue Stück vom Duo Zaimoglu/Senkel, zeigt die Fortsetzung der Kriege aus dem Geist der Treue wie der Rache. Glauben Sie an eine Welt, deren Ordnungen irgendwann nicht mehr auf Gewalt gegründet sein werden? Zaimoglu: Niemals. Das wahre Ungeziefer der Welt ist der Mensch.
Ein sehr harter Satz.
Zaimoglu: Ich bleibe aber dabei. Wenn nicht Ungeziefer, dann Hyäne.
Warum so böse?
Zaimoglu: Ich betrüge mich nicht selbst.
Wegen welcher Wahrheiten? Zaimoglu: Dass die Düsternis das Grundlegende der Existenz ist. Dass es gesellschaftlich ein Oben und ein Unten gibt und der gute Ausgang der Dinge nur ein schütteres Gerücht. Dass die meisten Philosophen Schuhputzer der jeweils aktuellen Mächtigen sind. Dass die Menschen aber leider diese Mächtigen und die politischen Verhältnisse mystifizieren, weil sie ihr Leben und ihre Anpassungsnöte rechtfertigen wollen. Und: Es wird immer Arme geben.
Amen!
Zaimoglu: Eben nicht! Dass Armut auf dieser Erde nicht vergehen wird, ist keine fortschrittliche Ansicht, das weiß ich sehr wohl. Aber diese Auffassung ist für mich kein Grund, zynisch zu werden. Ich weiß, dass Bibliotheken bombardiert und Bücher verbrannt werden und sich jährlich viele, viele Menschen vom Lesen verabschieden – dennoch schreibe ich. Ich bin sozusagen mit Lust und Leidenschaft eine lächerliche Figur. Ich lebe gern und bin nicht bereit, in Resignation zu verfallen. Und ich verachte diesen intellektuellen, meist maskulin verfassten Jargon, mit dem man über Flüchtlinge und Bedürftige
spricht, aber selber nie mit einem Betroffenen geredet hat. Es gibt nur eine einzige entscheidende Frage und Frontlinie: Bin ich mit Kopf und Herz bei den Armen oder bei den Reichen? Hoch lebe der Humanismus! Auf die Götzen sei gespien und geschissen. Geheiligt sei die Unschuld.
Die es nicht gibt.
Zaimoglu: Deswegen ist sie unsterblich wie die Hoffnung. Ich würde mich selbst vergiften, wenn ich nicht schreiben würde. Die Wirklichkeit verätzt, ja. Aber auch wenn man an der Lüge der Mächtigen zu ersticken droht und die Seele nach Sauerstoff ringt – für mich gilt: Herrschaft nicht annehmen, den Tölpeln ausweichen, Lärm meiden und dem Speichelregen der Spötter aus dem Weg gehen.
Vielleicht braucht es wieder einen radikalen gesellschaftlichen Bruch. Zaimoglu: Härte gegen die Mächtigen hat viele gute Gründe und Felder, und Härte ist gewiss nötig, denn es gibt der Weichmacher viele. Aber ich bin nicht bereit, das Blut der Guillotinen heiligzusprechen. Erst werden die Reaktionäre erledigt, und wenn der Thron dann frei ist, geht es gegen die sogenannten einfachen Leute. Die gewöhnlich in den kompliziertesten Verhältnissen leben und diese meist nie loswerden.
Sie sagen: »Verlassen sind die Armen. Sie müssen nach vorne drängen, sie müssen allen Stolz vergessen, sie müssen sich ausweisen als Hungerleider, dass man ihnen den Kanten Brot und die Schüssel Erbsensuppe aufs Tablett stelle.« Hat die deutsche Literatur ein Problem mit denen, denen es nicht gut geht? Zaimoglu: Im Gros der bürgerlich verfassten Literatur finde ich die Verlassenen kaum aufgenommen und herausgehoben. Aber für mich sind sie das Thema. Sie sollen klingen. Lite-
ratur wie ein bisschen Seligsprechung: Du bist und bleibst arm, aber du bist aufgenommen. Bist herausgehoben. Im Grunde halte ich die hauptsächlich gehandelte Erzählung vom souveränen Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft für eine Lüge. Gehen Sie mal die Straße vor meiner Wohnung entlang, bis hinunter zum Rondell, da sitzen die armen Seelen. Um die Ecke ist das Seniorendomizil. Alles, was beflissen schöngemalt wird, ist anzuschauen und sieht so ganz anders aus als schön; alles, was gern weggeredet oder weggeschwiegen wird, ist greifbar. Und schreit dich an.
Mit genauer und teilnehmender Wahrnehmung beginnt für Sie das Verhältnis zur Welt?
Zaimoglu: Mit Wahrnehmung – und Herz. Wie ein Hund, der rausgeht und abends heimkommt und die Kletten in seinem Fell bemerkt: hinschauen, aufsaugen. Leider verweigert sich die Unterschicht der alten bolschewistischen Eucharistie, die ja auch eine Fehlanzeige war: Aus den Kämpfen um Brot und Produktion erwächst kein besserer, bewussterer Mensch.
So viel gekämpft wird derzeit leider nicht. Man rückt nicht zusammen, man rückt nach rechts. Zaimoglu: Das tut weh, ja. Ein verhängnisvolles Erbe der 68er besteht darin, dass sie diese Gesellschaft zivilisiert, also ins Gemäßigte getrieben haben. Im Schlepptau des Gemäßigten etabliert sich Gleichgültigkeit.
Senkel: Vielleicht sollte man eher sagen: Sie haben den Widerstand domestiziert.
Zaimoglu: Die 68er haben große Dinge geleistet, denn die frühe Bundesrepublik war furchtbar. Aber einige Bürgersöhnchen und -töchterchen haben sich beim langen Weg
durch die Institutionen zu lang in deren Gängen aufgehalten und nicht mehr den Weg hinaus gefunden. Mit der Bundesrepublik entstand ein demokratischer Staat, ja, aber gleichzeitig war die Behauptung des geschichtlichen Bruchs mit der Vergangenheit eine Täuschung. Denn wenn heute gebarmt wird, es gebe eine bedenkliche Einwanderung in die Sozialsysteme, dann kann ich nur sagen: Die größte bedenkliche Einwanderung in die Sozialsysteme der jungen Bundesrepublik bestand in der damaligen Übernahme unzähliger Nazis.
Senkel: Ich bin groß geworden in einer Zeit, da es auf der Straße noch kräftigen Widerstand gab, gegen staatliche Willkür, gegen Berufsverbote, gegen Aufrüstung. Der Staat warf die Wasserwerfer an, zeigte drohend nach links und sprach vom Sympathisantensumpf. Bezeichnenderweise spricht man heute, im Zusammenhang mit rechtem Terror, keineswegs vom Sympathisantensumpf. Krampfhaft bemüht man sich um die Behauptung von Einzeltätern.
»Für mich gilt: Herrschaft nicht annehmen, den Tölpeln ausweichen, Lärm meiden und dem Speichelregen der Spötter aus dem Weg gehen.« Feridun Zaimoglu
Ist die Straße für Sie noch immer ein politischer Ort?
Senkel: In einem Teil des Kieler Hafens stehen NATO-Panzer, die in den Osten verschifft werden, an die russische Grenze. Bereitstellungsräume wie bei der Wehrmacht. Wir haben gegen diese Panzertransporte protestiert, kürzlich, während der Kieler Woche. Die hatte drei Millionen Besucher, wir waren 120 Demonstranten. Schon vor über 40 Jahren haben wir an gleicher Stelle demonstriert.
Wie viele waren Sie damals? Senkel: Weit mehr als diesmal: 150 Leute. Aber irgendeinen Fortschritt gibt es immer: Damals bezogen wir Prügel, heute lässt man solche Spinner wie uns in Ruhe.
Anfang der neunziger Jahre zog ein kleines Häuflein wütender, abgewickelter, eiskalt ausgebooteter Bischofferöder Kalibergleute nach Berlin zur Treuhand. Machten sich auf den Weg und hofften auf mitmarschierende Solidarität unterwegs. Keiner ging mit. Aufstand? Das ist offenbar dasWe st gesellschaftsfremdeste, was sich moment andenken lässt.
Senkel: Der Staat schüchtert ein. Mit der Gewaltorgie des Staates beim G20-Gipfel wurde für meine Begriffe die Umwandlung der Bundesrepublik in einen Polizeistaat abgeschlossen. Hätte sich Polizei in Kabul oder im Kosovo so aufgeführt wie in Hamburg, wären die Verantwortlichen vorm Gericht in Den Haag gelandet. Zaimoglu: Günter, mit dieser Bemerkung sorgst du dafür, dass es zur ersten Polizeirazzia in diesem Haus kommt!
Senkel: Die Genfer Konvention stellte Regeln für das Verhalten gegen fremde Truppen auf, die offenbar im Einsatz gegen die eigene Bevölkerung nicht mehr gelten. Zaimoglu: Nächste Razzia!
Sie wundern sich über den Gleichmut, mit dem das alles hingenommen wird?
Senkel: Die Leute müssten, zum Beispiel, nur einen einzigen Blick ins Programm der AfD werfen, und ihnen würden die Augen aufgehen – aber: Sie tun es nicht. Informationsfreiheit wird als allgemeines Gut geschätzt, aber man informiert sich nicht wirklich.
Zaimoglu: Information! Als im NSUProzess die Urteile gesprochen worden waren, sagte Marietta Slomka am Abend im »heute-journal«: Wir wüssten ja längst, was islamistischer und linker Terrorismus sei, aber dass es rechtsextremen Terror gebe, das sei neu. Geht’s noch? Vergessen: die Wehrsportgruppe Hoffmann, die Anschläge auf dem Oktoberfest? Nur als Beispiele. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Das war nicht Nachrichtengebung, das war Narkose im großen Stil.
Den Unterschied zwischen unmittelbarer Erfahrung, die man für Orientierungen braucht, und mittelbarer Erfahrung, wie sie das Fernsehen verbreitet, beschrieb der Publizist Günter Gaus schon vor Jahrzehnten an einem simplen Beispiel: »Am Strand eines südlichen Landes sonnen sich Menschen. Das karge Hinterland des Ferienziels mit seinen sozialen Fragen kennen sie aus Videos – jetzt meinen sie, dass sie Bescheid wüssten.« Man schaut fern und hält sich für welthaltig. Zaimoglu: Welthaltigkeit! Das ist das Affenwort der Stunde, wo doch die meisten nur in ihrer Bude hocken und googlen. Man liest zwei Magazine, drei Wochenzeitschriften und sieht pro Woche vier Talkshows – schon Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Er studierte Kunst und Medizin in Kiel. Zu seinen Bestsellern zählen »Kanak Sprak« sowie »Leyla« und »Liebesbrand«. Zuletzt erschien der Luther-Roman »Evangelio«. Zaimoglu erhielt zahlreiche Literaturpreise. Vor wenigen Tagen eröffnete er mit einer glühenden Einmischungsrede den Ingeborg-BachmannWettbewerb in Klagenfurt.
meint man sich gerüstet für die Selbstanmaßung einer sogenannten kritischen Haltung.
Aber die Linken wirken auch nicht gerade sehr feurig.
Senkel: Das stimmt. Aber Linke können tun, was sie wollen, sie werden immer und überall dämonisiert. Hat denn wirklich jemand geglaubt, ein Sozialismus-Versuch in dieser Welt der Klassenfeindschaften sei als Spaziergang und mit freundlichen Grüßen über die Grenzzäune möglich gewesen? Doch wohl kaum. Deshalb wundere ich mich bis heute über die Selbstzerfleischungen, zu denen Linke nach dem Ende des Systems bereit waren.
Feridun Zaimoglu, lieben Sie Deutschland?
Zaimoglu: Natürlich. Ich lasse mir Heimat nicht kleinreden. Heimatliebe ist gesund, wenn sich ein Himmel drüberschwingt, der real ist und nicht nur eine ideologische Deckentapete. Aber wenn man das Eigene, das Deutsche ausdauernd als hassenswert und beschränkt hinstellt, wenn man die Deutschen unentwegt – gerade auch von links – als Rumpelfüßler und Dödel und Dauerfaschisten bezeichnet, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Rechten, und zwar ekelhaft erfolgreich, traditionelle Wertefelder besetzen.
Martin Walser ging einst mit Freunden der DKP zum Spiel einer Münchner gegen eine Moskauer Fußballmannschaft: »Als ich merkte, meine deutschen Freunde jubelten für Moskau, wusste ich, dass es mit dieser Partei nichts wird.«
Zaimoglu: Ich habe immer gesagt: Ich bin Deutscher. Und auf Nachfrage: mit türkischen Eltern. Mein Vater war Lederarbeiter, er übersetzte zwischen türkischen Arbeitern und der Unternehmensleitung, später war er im türkischen Konsulat tätig – das war doch eine tolle Entwicklung. Meine Mutter war Putzfrau, dann Kaufhausangestellte: auch toll. Den Einwanderern der ersten Generation konnte nichts Besseres passieren als – Deutschland.
Sie polemisierten jüngst gegen Migranten, die sehr prononciert ihr Fremdsein in Deutschland kultivieren. Fast wie die Sekte der Antideutschen.
Zaimoglu: Es gibt nur eine einzige Migrantengeneration, das sind die herrlichen Männer und Frauen der ersten Stunde. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, die haben diesen Migrantenstatus doch überhaupt nicht mehr, sie sind hier geboren und hier aufgewachsen. Es sind deutsche Muslime oder muslimische Deutsche. Die meisten leben – und zwar gern – nach den Regeln dieser Gesellschaft. Und das bereichert Deutschland.
Es gibt aber offenkundig auch ein Bedürfnis nach Ethno-Nischen. Überspitzt gefragt: Wenn man über rechte Identitäre redet, muss man auch über islamische Identitäre sprechen?
Zaimoglu: Von Identität halte ich grundsätzlich nichts. Das ist für mich ein Lügenwort. Diesem angeblichen Dreh- und Angelpunkt des westlichen Bewusstseins liegt Selbstverortungswahn zugrunde: Jeder bastelt sich seinen Pferch. Aber wenn man nur immer seine Fremdheit bemüht, dann hat man versagt. Wer also unter den Muslimen glaubt, er könne hier eine saudische Männerdiktatur errichten, der soll sich vom Hof machen.
Schon im Buch »Kanak-Sprak« von 1995 haben Sie auch gegen den bürgerlichen Multikulturalismus gewettert.
Zaimoglu: Das war für mich nur eine friedliche Koexistenz der Speisekarten. Es geht doch aber um mehr. Man kann das Fremde nicht als Reservat aufziehen. Ich mag diese bürgerlichen Typen nicht, die das Multikulturelle loben, aber ihre Kinder von Schulen fernhalten, die einen hohen Ausländeranteil haben. Man kann auch nicht über die Vorteile der Globalisierung schwätzen, aber weiterhin alle Arbeitsplätze verdeutschen wollen. Und jene, die so dauertönend »Nathan den Weisen« im Mund führen – die möchte ich sehen, wenn in der Nachbarschaft eine Moschee gebaut werden sollte.
Senkel: Die Denunziation des Fremden, des Unbekannten und das Misstrauen ihm gegenüber ist letztlich eine zutiefst menschliche Eigenschaft, gültig zu allen Zeiten. Ob Dorf, Stadt, Land: Man sucht sich irgendwelche Maßstäbe, an denen man die eigene Gruppenzugehörigkeit festmacht. Rassismus ist also in den Alltag eingeflochten, darüber sollte man sich nicht hinwegtäuschen. Dagegen anzugehen, ist aktive, langwierige Arbeit.
Stichwort Flüchtlinge.
Zaimoglu: Die AfD-Fratzen sprechen von Ethnie, von Kulturkreis, von Religion, von Abendland, sie salbadern völkisch. Warum? Um nicht über die Logik von Ursache und Wirkung reden zu müssen: Wir haben Länder zerbombt – nun kommen deren Bewohner hierher. So bitter einfach ist das. Das transatlantische Bündnis hat außerhalb Europa Krieg geführt – das ist eine Basis unseres Friedens. Senkel: Die NATO zerkloppt und zerkloppt. Wo jetzt die Balkanroute entlangführt, war früher Jugoslawien – auch zerkloppt. Nüchtern gesagt: Handlungen haben Konsequenzen, und Rechnungen werden ausgestellt, um bezahlt zu werden. Meistens werden sie später ausgestellt, deshalb nimmt man die Kosten zunächst nicht ernst.
Zaimoglu: Ja, wir marschieren irgendwo ein, bezeichnen das als Lehrstunde der Demokratie, in Wahrheit beuten wir aus und verteilen Glasperlen. Angesichts der Flüchtlingsströme wird getan, als müssten wir uns gegen eine biblische Heuschreckenplage wehren, nein, diese Weltlage ist entstanden, weil wir da draußen Invasionsbiologie betreiben.
Herr Zaimoglu, ich kann mir vorstellen, dass Sie Schwierigkeiten haben mit dem Wesen deutscher Debattenkultur. Nehmen Sie den Gender-Eifer. Manche reden von Emanzipation, als wollten sie zurück zum Korsett.
Zaimoglu: Ja, überall schon wieder neue Schilder des politisch Korrekten: Das darfst du sagen, das lieber nicht! Rundum patrouillieren Polizisten der Raumhygiene. Die sind wie die Pharisäer: Es ging um Gottes Liebe, und die kamen mit Vorschriften. Ich habe mich aber von Sippe und Sitte, von mistigen Ehrbegriffen und den Lügen der Orientalen nicht befreit, um erneut reglementiert zu werden.
Sie haben gesagt: »Ich liebe es, von mir fortgerissen zu werden.« Zaimoglu: Und daher mag es seltsam wirken, dass ausgerechnet ich die deutsche Tugend der Nüchternheit beschwöre. Aber ich beschwöre sie tatsächlich. Links, rechts – immer werden alle gleich hysterisch und furchtbar theoretisch. Auf jede Erklärung in einem Medium folgt eine Gegenerklärung, auf jede Meinung eine Petition. These und Gegenthese prügeln sich wie Preisboxer. Ich frage wieder: Geht’s noch? Auf allen Seiten das Geschrei der Volkserziehungsprosa. Jedoch die Lärmer mit den Schlagwörtern – schönen Gruß vom Leben! – werden regelmäßig von den Phänomenen überrollt.
Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, welche Bilder gehen Ihnen spontan durch den Kopf?
Zaimoglu: Vor allem denke ich an Ersatzstoffe: nicht wirklich Butter, nicht wirklich Nutella, sondern Nutoka, und am Samstag Iglustäbchen mit Pommes. Ich denke an Frauen! Frau Bibliothekarin, Frau Lehrerin, sie haben mich ins bessere Sprechen geleitet, mir das Buch nahegebracht als Mittel gegen den Schmerz des Elends. Literatur hat mir das Flegelhafte ausgetrieben. Sprache hat mich erzogen.
Senkel: In Erinnerung geblieben ist mir vor allem die Bewegungsfreiheit, wir spielten auf der Straße, wir liefen als Kinder über Betriebsgelände, es war ein Leben, in dem es nur wenige Zäune gab.
Sie behaupten, Gott sei schön. Ist das nicht ein bisschen wenig? Zaimoglu: Wir wissen doch, wohin es führt, wenn man ihm zu viel Kraft andichtet. Ich will keine Genickstarre
bekommen, weil ich nur nach oben schaue – da kommt man ins Stolpern. Senkel: Warum schauen die Menschen nach oben? Weil sie sich am liebsten mit Wesen identifizieren, die deutlich über ihrem eigenen stehen. Sie selber zu sein, ist unter ihrer Würde. Wir können nicht beweisen, dass Gott existiert. Religion ist Menschenwerk. Und jedem Menschenwerk ist mit Vorsicht zu begegnen.
Herr Zaimoglu, Sie glauben an Gott? Zaimoglu: Ich bin Moslem mit einem Kinderglauben. Für den Alltag brauche ich Gott nicht. Aber am Ende des Tages sage ich: »Allmächtiger, du bist so schön!« Schön ist, was befremdlich ist. Ich habe jedenfalls nie an jenen Atheismus geglaubt, der im marxistischen Paket enthalten ist. Es ist gesund, die Pfaffen zum Teufel zu jagen, das Klerikale abzulehnen, aber es ist auch gut, die eigene Ohnmächtigkeit zu begreifen. Auch alle Dinge, die mit Gott zu tun haben, führen zu einer einzigen Frage: Wie stehe ich zu den Armen?
Kommt Krieg?
Zaimoglu: Kriege kommen offenbar näher. Es riecht an vielen Ecken nach Pulverrauch. Aber da sind wir wieder bei der Frage, wie weit man all das Ungerechte, all das Gierige an sich heranlässt. Ich ertappe mich dabei, die Dinge lieber nicht zu Ende zu denken, mich abzuwenden. Mich macht das unsicher.
Senkel: Die große Tsunami-Katastrophe vor ein paar Jahren hat an einem Strand uralte Säulen freigelegt, in die eingeritzt war: »Unterhalb dieser Höhe keine Häuser bauen, das Wasser kommt.« Auch wenn es Jahrhunderte dauerte: Es kam. Wie immer: Die Seher erhalten immer erst recht, wenn die Uneinsichtigen für ihre Blindheit bezahlt haben – die Natur ist beim Abkassieren so gründlich wie geduldig.
Feridun Zaimoglu, Sie sagen von sich, ein Melancholiker zu sein. Zaimoglu: Die Gründe für Schwermut nehmen zu. Wenn ich diese vielen Autisten sehe, die auf ihr Smartphone starren und augenlos durch die Stadt schleichen, dann sehe ich darin ein Bild für das große Aussterben – der Menschen, die noch träumend aus dem Fenster schauen. Oder die dich mit einem offenen Blick anschauen, der sich viel Zeit nimmt, weil auch du Zeit hast.
Aber?
Zaimoglu: Dessen ungeachtet verschwende ich mich. Ich bin auf keinem Selbstfindungstrip. Ich will nicht rein bleiben. Selbsterhaltung durch Selbstbespiegelung, das ist langweilig. Ich gebe mich voll aus. Ich halte es mit den alten Märchen, in denen es vom Naiven heißt: Er stand auf, ging hinaus in die Welt und versuchte sein Glück.
»Bezeichnenderweise spricht man im Zusammenhang mit rechtem Terror keineswegs vom Sympathisantensumpf. Krampfhaft bemüht man sich um die Behauptung von Einzeltätern.« Günter Senkel