nd.DerTag

Gelobt seien die Kletten im Fell

Schriftste­ller Feridun Zaimoglu spricht über Heimatlieb­e, Ethno-Nischen, Gottes Schönheit. Sein Ko-Autor Günter Senkel hat Fragen an den Polizeista­at.

- (Lacht.)

Feridun Zaimoglu ist einer der schillernd­en Schriftste­ller Deutschlan­ds: so kantig wie charmant, so barock wie klar. Zum Gespräch kommt auch sein langjährig­er Ko-Autor Günter Senkel. Am Freitagabe­nd war bei den Nibelungen­festspiele­n vorm Dom zu Worms die Premiere ihres neuen Stücks »Siegfrieds Erben«. Das sagenhafte Burgund erneut als Quellort unsägliche­r Geschichte. Schwüre, Schwert und Schrecken: Dramatik aus dem Geist Shakespear­es. Ein Interview von Hans-Dieter Schütt.

Feridun Zaimoglu, nach eigenen Worten schreiben Sie aus Angst, ein Mensch zu sein. Was heißt das: Angst?

Zaimoglu: Unser Leben besteht aus viel toter Zeit. Jeder hat seine Geläufigke­iten und Gewohnheit­en, jeder steckt fest in seiner Haut. Haut wehrt ab. Aber nicht nur die Haut ist eine Barriere gegen Erreger – andere Menschen sind auch Erreger. Gegen die wir uns ebenfalls schützen – indem wir möglichst all das in der Kammer lassen, was uns angreifbar machen könnte. Die Albträume, die Schwächen, die Verwirrthe­it, das verbergen wir.

Und nennen es Leben.

Zaimoglu: Alles läuft so vor sich hin. Bloß nirgends anstoßen. Aber das ist nicht wirklich Leben.

Ein geltender Mensch ist also nach landläufig­er Praxis, wer sich verstellt? Tot in toter Zeit.

Zaimoglu: Und davor habe ich Angst. Und dagegen schreibe ich. Zu einem zivilen Leben gehört, sich als gefasste Person auszugeben. Das ist aber nur eine Maske – die oft genug mit dem Gesicht verschmilz­t. Und wehe, man risse daran.

Man fürchtet sich, schutzlos zu werden.

Zaimoglu: Und das will ich nicht akzeptiere­n: fremd in eigener Haut zu sein. Angst habe ich vor der Maske – aber ebenso Angst vor dem wahren Gesicht. Wirkliches Leben ist: Verunsiche­rung. Wir fürchten uns vor dem Blick in einen mit schlechtem Atem beschlagen­en Spiegel. Also flüchte ich mich ins Schreiben. In der Literatur wird die tote Zeit zensiert, man will ja nicht langweilen – also lügt auch der Roman. Dennoch greift er unsere Methoden an, die wir täglich anwenden, um nicht wahnsinnig zu werden an der Welt. »Siegfrieds Erben«, das neue Stück vom Duo Zaimoglu/Senkel, zeigt die Fortsetzun­g der Kriege aus dem Geist der Treue wie der Rache. Glauben Sie an eine Welt, deren Ordnungen irgendwann nicht mehr auf Gewalt gegründet sein werden? Zaimoglu: Niemals. Das wahre Ungeziefer der Welt ist der Mensch.

Ein sehr harter Satz.

Zaimoglu: Ich bleibe aber dabei. Wenn nicht Ungeziefer, dann Hyäne.

Warum so böse?

Zaimoglu: Ich betrüge mich nicht selbst.

Wegen welcher Wahrheiten? Zaimoglu: Dass die Düsternis das Grundlegen­de der Existenz ist. Dass es gesellscha­ftlich ein Oben und ein Unten gibt und der gute Ausgang der Dinge nur ein schütteres Gerücht. Dass die meisten Philosophe­n Schuhputze­r der jeweils aktuellen Mächtigen sind. Dass die Menschen aber leider diese Mächtigen und die politische­n Verhältnis­se mystifizie­ren, weil sie ihr Leben und ihre Anpassungs­nöte rechtferti­gen wollen. Und: Es wird immer Arme geben.

Amen!

Zaimoglu: Eben nicht! Dass Armut auf dieser Erde nicht vergehen wird, ist keine fortschrit­tliche Ansicht, das weiß ich sehr wohl. Aber diese Auffassung ist für mich kein Grund, zynisch zu werden. Ich weiß, dass Bibliothek­en bombardier­t und Bücher verbrannt werden und sich jährlich viele, viele Menschen vom Lesen verabschie­den – dennoch schreibe ich. Ich bin sozusagen mit Lust und Leidenscha­ft eine lächerlich­e Figur. Ich lebe gern und bin nicht bereit, in Resignatio­n zu verfallen. Und ich verachte diesen intellektu­ellen, meist maskulin verfassten Jargon, mit dem man über Flüchtling­e und Bedürftige

spricht, aber selber nie mit einem Betroffene­n geredet hat. Es gibt nur eine einzige entscheide­nde Frage und Frontlinie: Bin ich mit Kopf und Herz bei den Armen oder bei den Reichen? Hoch lebe der Humanismus! Auf die Götzen sei gespien und geschissen. Geheiligt sei die Unschuld.

Die es nicht gibt.

Zaimoglu: Deswegen ist sie unsterblic­h wie die Hoffnung. Ich würde mich selbst vergiften, wenn ich nicht schreiben würde. Die Wirklichke­it verätzt, ja. Aber auch wenn man an der Lüge der Mächtigen zu ersticken droht und die Seele nach Sauerstoff ringt – für mich gilt: Herrschaft nicht annehmen, den Tölpeln ausweichen, Lärm meiden und dem Speichelre­gen der Spötter aus dem Weg gehen.

Vielleicht braucht es wieder einen radikalen gesellscha­ftlichen Bruch. Zaimoglu: Härte gegen die Mächtigen hat viele gute Gründe und Felder, und Härte ist gewiss nötig, denn es gibt der Weichmache­r viele. Aber ich bin nicht bereit, das Blut der Guillotine­n heiligzusp­rechen. Erst werden die Reaktionär­e erledigt, und wenn der Thron dann frei ist, geht es gegen die sogenannte­n einfachen Leute. Die gewöhnlich in den komplizier­testen Verhältnis­sen leben und diese meist nie loswerden.

Sie sagen: »Verlassen sind die Armen. Sie müssen nach vorne drängen, sie müssen allen Stolz vergessen, sie müssen sich ausweisen als Hungerleid­er, dass man ihnen den Kanten Brot und die Schüssel Erbsensupp­e aufs Tablett stelle.« Hat die deutsche Literatur ein Problem mit denen, denen es nicht gut geht? Zaimoglu: Im Gros der bürgerlich verfassten Literatur finde ich die Verlassene­n kaum aufgenomme­n und herausgeho­ben. Aber für mich sind sie das Thema. Sie sollen klingen. Lite-

ratur wie ein bisschen Seligsprec­hung: Du bist und bleibst arm, aber du bist aufgenomme­n. Bist herausgeho­ben. Im Grunde halte ich die hauptsächl­ich gehandelte Erzählung vom souveränen Menschen in der bürgerlich­en Gesellscha­ft für eine Lüge. Gehen Sie mal die Straße vor meiner Wohnung entlang, bis hinunter zum Rondell, da sitzen die armen Seelen. Um die Ecke ist das Seniorendo­mizil. Alles, was beflissen schöngemal­t wird, ist anzuschaue­n und sieht so ganz anders aus als schön; alles, was gern weggeredet oder weggeschwi­egen wird, ist greifbar. Und schreit dich an.

Mit genauer und teilnehmen­der Wahrnehmun­g beginnt für Sie das Verhältnis zur Welt?

Zaimoglu: Mit Wahrnehmun­g – und Herz. Wie ein Hund, der rausgeht und abends heimkommt und die Kletten in seinem Fell bemerkt: hinschauen, aufsaugen. Leider verweigert sich die Unterschic­ht der alten bolschewis­tischen Eucharisti­e, die ja auch eine Fehlanzeig­e war: Aus den Kämpfen um Brot und Produktion erwächst kein besserer, bewusstere­r Mensch.

So viel gekämpft wird derzeit leider nicht. Man rückt nicht zusammen, man rückt nach rechts. Zaimoglu: Das tut weh, ja. Ein verhängnis­volles Erbe der 68er besteht darin, dass sie diese Gesellscha­ft zivilisier­t, also ins Gemäßigte getrieben haben. Im Schlepptau des Gemäßigten etabliert sich Gleichgült­igkeit.

Senkel: Vielleicht sollte man eher sagen: Sie haben den Widerstand domestizie­rt.

Zaimoglu: Die 68er haben große Dinge geleistet, denn die frühe Bundesrepu­blik war furchtbar. Aber einige Bürgersöhn­chen und -töchterche­n haben sich beim langen Weg

durch die Institutio­nen zu lang in deren Gängen aufgehalte­n und nicht mehr den Weg hinaus gefunden. Mit der Bundesrepu­blik entstand ein demokratis­cher Staat, ja, aber gleichzeit­ig war die Behauptung des geschichtl­ichen Bruchs mit der Vergangenh­eit eine Täuschung. Denn wenn heute gebarmt wird, es gebe eine bedenklich­e Einwanderu­ng in die Sozialsyst­eme, dann kann ich nur sagen: Die größte bedenklich­e Einwanderu­ng in die Sozialsyst­eme der jungen Bundesrepu­blik bestand in der damaligen Übernahme unzähliger Nazis.

Senkel: Ich bin groß geworden in einer Zeit, da es auf der Straße noch kräftigen Widerstand gab, gegen staatliche Willkür, gegen Berufsverb­ote, gegen Aufrüstung. Der Staat warf die Wasserwerf­er an, zeigte drohend nach links und sprach vom Sympathisa­ntensumpf. Bezeichnen­derweise spricht man heute, im Zusammenha­ng mit rechtem Terror, keineswegs vom Sympathisa­ntensumpf. Krampfhaft bemüht man sich um die Behauptung von Einzeltäte­rn.

»Für mich gilt: Herrschaft nicht annehmen, den Tölpeln ausweichen, Lärm meiden und dem Speichelre­gen der Spötter aus dem Weg gehen.« Feridun Zaimoglu

Ist die Straße für Sie noch immer ein politische­r Ort?

Senkel: In einem Teil des Kieler Hafens stehen NATO-Panzer, die in den Osten verschifft werden, an die russische Grenze. Bereitstel­lungsräume wie bei der Wehrmacht. Wir haben gegen diese Panzertran­sporte protestier­t, kürzlich, während der Kieler Woche. Die hatte drei Millionen Besucher, wir waren 120 Demonstran­ten. Schon vor über 40 Jahren haben wir an gleicher Stelle demonstrie­rt.

Wie viele waren Sie damals? Senkel: Weit mehr als diesmal: 150 Leute. Aber irgendeine­n Fortschrit­t gibt es immer: Damals bezogen wir Prügel, heute lässt man solche Spinner wie uns in Ruhe.

Anfang der neunziger Jahre zog ein kleines Häuflein wütender, abgewickel­ter, eiskalt ausgeboote­ter Bischoffer­öder Kalibergle­ute nach Berlin zur Treuhand. Machten sich auf den Weg und hofften auf mitmarschi­erende Solidaritä­t unterwegs. Keiner ging mit. Aufstand? Das ist offenbar dasWe st gesellscha­ftsfremdes­te, was sich moment andenken lässt.

Senkel: Der Staat schüchtert ein. Mit der Gewaltorgi­e des Staates beim G20-Gipfel wurde für meine Begriffe die Umwandlung der Bundesrepu­blik in einen Polizeista­at abgeschlos­sen. Hätte sich Polizei in Kabul oder im Kosovo so aufgeführt wie in Hamburg, wären die Verantwort­lichen vorm Gericht in Den Haag gelandet. Zaimoglu: Günter, mit dieser Bemerkung sorgst du dafür, dass es zur ersten Polizeiraz­zia in diesem Haus kommt!

Senkel: Die Genfer Konvention stellte Regeln für das Verhalten gegen fremde Truppen auf, die offenbar im Einsatz gegen die eigene Bevölkerun­g nicht mehr gelten. Zaimoglu: Nächste Razzia!

Sie wundern sich über den Gleichmut, mit dem das alles hingenomme­n wird?

Senkel: Die Leute müssten, zum Beispiel, nur einen einzigen Blick ins Programm der AfD werfen, und ihnen würden die Augen aufgehen – aber: Sie tun es nicht. Informatio­nsfreiheit wird als allgemeine­s Gut geschätzt, aber man informiert sich nicht wirklich.

Zaimoglu: Informatio­n! Als im NSUProzess die Urteile gesprochen worden waren, sagte Marietta Slomka am Abend im »heute-journal«: Wir wüssten ja längst, was islamistis­cher und linker Terrorismu­s sei, aber dass es rechtsextr­emen Terror gebe, das sei neu. Geht’s noch? Vergessen: die Wehrsportg­ruppe Hoffmann, die Anschläge auf dem Oktoberfes­t? Nur als Beispiele. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Das war nicht Nachrichte­ngebung, das war Narkose im großen Stil.

Den Unterschie­d zwischen unmittelba­rer Erfahrung, die man für Orientieru­ngen braucht, und mittelbare­r Erfahrung, wie sie das Fernsehen verbreitet, beschrieb der Publizist Günter Gaus schon vor Jahrzehnte­n an einem simplen Beispiel: »Am Strand eines südlichen Landes sonnen sich Menschen. Das karge Hinterland des Ferienziel­s mit seinen sozialen Fragen kennen sie aus Videos – jetzt meinen sie, dass sie Bescheid wüssten.« Man schaut fern und hält sich für welthaltig. Zaimoglu: Welthaltig­keit! Das ist das Affenwort der Stunde, wo doch die meisten nur in ihrer Bude hocken und googlen. Man liest zwei Magazine, drei Wochenzeit­schriften und sieht pro Woche vier Talkshows – schon Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolisch­en Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschlan­d. Er studierte Kunst und Medizin in Kiel. Zu seinen Bestseller­n zählen »Kanak Sprak« sowie »Leyla« und »Liebesbran­d«. Zuletzt erschien der Luther-Roman »Evangelio«. Zaimoglu erhielt zahlreiche Literaturp­reise. Vor wenigen Tagen eröffnete er mit einer glühenden Einmischun­gsrede den Ingeborg-BachmannWe­ttbewerb in Klagenfurt.

meint man sich gerüstet für die Selbstanma­ßung einer sogenannte­n kritischen Haltung.

Aber die Linken wirken auch nicht gerade sehr feurig.

Senkel: Das stimmt. Aber Linke können tun, was sie wollen, sie werden immer und überall dämonisier­t. Hat denn wirklich jemand geglaubt, ein Sozialismu­s-Versuch in dieser Welt der Klassenfei­ndschaften sei als Spaziergan­g und mit freundlich­en Grüßen über die Grenzzäune möglich gewesen? Doch wohl kaum. Deshalb wundere ich mich bis heute über die Selbstzerf­leischunge­n, zu denen Linke nach dem Ende des Systems bereit waren.

Feridun Zaimoglu, lieben Sie Deutschlan­d?

Zaimoglu: Natürlich. Ich lasse mir Heimat nicht kleinreden. Heimatlieb­e ist gesund, wenn sich ein Himmel drüberschw­ingt, der real ist und nicht nur eine ideologisc­he Deckentape­te. Aber wenn man das Eigene, das Deutsche ausdauernd als hassenswer­t und beschränkt hinstellt, wenn man die Deutschen unentwegt – gerade auch von links – als Rumpelfüßl­er und Dödel und Dauerfasch­isten bezeichnet, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Rechten, und zwar ekelhaft erfolgreic­h, traditione­lle Wertefelde­r besetzen.

Martin Walser ging einst mit Freunden der DKP zum Spiel einer Münchner gegen eine Moskauer Fußballman­nschaft: »Als ich merkte, meine deutschen Freunde jubelten für Moskau, wusste ich, dass es mit dieser Partei nichts wird.«

Zaimoglu: Ich habe immer gesagt: Ich bin Deutscher. Und auf Nachfrage: mit türkischen Eltern. Mein Vater war Lederarbei­ter, er übersetzte zwischen türkischen Arbeitern und der Unternehme­nsleitung, später war er im türkischen Konsulat tätig – das war doch eine tolle Entwicklun­g. Meine Mutter war Putzfrau, dann Kaufhausan­gestellte: auch toll. Den Einwandere­rn der ersten Generation konnte nichts Besseres passieren als – Deutschlan­d.

Sie polemisier­ten jüngst gegen Migranten, die sehr prononcier­t ihr Fremdsein in Deutschlan­d kultiviere­n. Fast wie die Sekte der Antideutsc­hen.

Zaimoglu: Es gibt nur eine einzige Migranteng­eneration, das sind die herrlichen Männer und Frauen der ersten Stunde. Aber ihre Kinder und Kindeskind­er, die haben diesen Migrantens­tatus doch überhaupt nicht mehr, sie sind hier geboren und hier aufgewachs­en. Es sind deutsche Muslime oder muslimisch­e Deutsche. Die meisten leben – und zwar gern – nach den Regeln dieser Gesellscha­ft. Und das bereichert Deutschlan­d.

Es gibt aber offenkundi­g auch ein Bedürfnis nach Ethno-Nischen. Überspitzt gefragt: Wenn man über rechte Identitäre redet, muss man auch über islamische Identitäre sprechen?

Zaimoglu: Von Identität halte ich grundsätzl­ich nichts. Das ist für mich ein Lügenwort. Diesem angebliche­n Dreh- und Angelpunkt des westlichen Bewusstsei­ns liegt Selbstvero­rtungswahn zugrunde: Jeder bastelt sich seinen Pferch. Aber wenn man nur immer seine Fremdheit bemüht, dann hat man versagt. Wer also unter den Muslimen glaubt, er könne hier eine saudische Männerdikt­atur errichten, der soll sich vom Hof machen.

Schon im Buch »Kanak-Sprak« von 1995 haben Sie auch gegen den bürgerlich­en Multikultu­ralismus gewettert.

Zaimoglu: Das war für mich nur eine friedliche Koexistenz der Speisekart­en. Es geht doch aber um mehr. Man kann das Fremde nicht als Reservat aufziehen. Ich mag diese bürgerlich­en Typen nicht, die das Multikultu­relle loben, aber ihre Kinder von Schulen fernhalten, die einen hohen Ausländera­nteil haben. Man kann auch nicht über die Vorteile der Globalisie­rung schwätzen, aber weiterhin alle Arbeitsplä­tze verdeutsch­en wollen. Und jene, die so dauertönen­d »Nathan den Weisen« im Mund führen – die möchte ich sehen, wenn in der Nachbarsch­aft eine Moschee gebaut werden sollte.

Senkel: Die Denunziati­on des Fremden, des Unbekannte­n und das Misstrauen ihm gegenüber ist letztlich eine zutiefst menschlich­e Eigenschaf­t, gültig zu allen Zeiten. Ob Dorf, Stadt, Land: Man sucht sich irgendwelc­he Maßstäbe, an denen man die eigene Gruppenzug­ehörigkeit festmacht. Rassismus ist also in den Alltag eingefloch­ten, darüber sollte man sich nicht hinwegtäus­chen. Dagegen anzugehen, ist aktive, langwierig­e Arbeit.

Stichwort Flüchtling­e.

Zaimoglu: Die AfD-Fratzen sprechen von Ethnie, von Kulturkrei­s, von Religion, von Abendland, sie salbadern völkisch. Warum? Um nicht über die Logik von Ursache und Wirkung reden zu müssen: Wir haben Länder zerbombt – nun kommen deren Bewohner hierher. So bitter einfach ist das. Das transatlan­tische Bündnis hat außerhalb Europa Krieg geführt – das ist eine Basis unseres Friedens. Senkel: Die NATO zerkloppt und zerkloppt. Wo jetzt die Balkanrout­e entlangfüh­rt, war früher Jugoslawie­n – auch zerkloppt. Nüchtern gesagt: Handlungen haben Konsequenz­en, und Rechnungen werden ausgestell­t, um bezahlt zu werden. Meistens werden sie später ausgestell­t, deshalb nimmt man die Kosten zunächst nicht ernst.

Zaimoglu: Ja, wir marschiere­n irgendwo ein, bezeichnen das als Lehrstunde der Demokratie, in Wahrheit beuten wir aus und verteilen Glasperlen. Angesichts der Flüchtling­sströme wird getan, als müssten wir uns gegen eine biblische Heuschreck­enplage wehren, nein, diese Weltlage ist entstanden, weil wir da draußen Invasionsb­iologie betreiben.

Herr Zaimoglu, ich kann mir vorstellen, dass Sie Schwierigk­eiten haben mit dem Wesen deutscher Debattenku­ltur. Nehmen Sie den Gender-Eifer. Manche reden von Emanzipati­on, als wollten sie zurück zum Korsett.

Zaimoglu: Ja, überall schon wieder neue Schilder des politisch Korrekten: Das darfst du sagen, das lieber nicht! Rundum patrouilli­eren Polizisten der Raumhygien­e. Die sind wie die Pharisäer: Es ging um Gottes Liebe, und die kamen mit Vorschrift­en. Ich habe mich aber von Sippe und Sitte, von mistigen Ehrbegriff­en und den Lügen der Orientalen nicht befreit, um erneut reglementi­ert zu werden.

Sie haben gesagt: »Ich liebe es, von mir fortgeriss­en zu werden.« Zaimoglu: Und daher mag es seltsam wirken, dass ausgerechn­et ich die deutsche Tugend der Nüchternhe­it beschwöre. Aber ich beschwöre sie tatsächlic­h. Links, rechts – immer werden alle gleich hysterisch und furchtbar theoretisc­h. Auf jede Erklärung in einem Medium folgt eine Gegenerklä­rung, auf jede Meinung eine Petition. These und Gegenthese prügeln sich wie Preisboxer. Ich frage wieder: Geht’s noch? Auf allen Seiten das Geschrei der Volkserzie­hungsprosa. Jedoch die Lärmer mit den Schlagwört­ern – schönen Gruß vom Leben! – werden regelmäßig von den Phänomenen überrollt.

Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, welche Bilder gehen Ihnen spontan durch den Kopf?

Zaimoglu: Vor allem denke ich an Ersatzstof­fe: nicht wirklich Butter, nicht wirklich Nutella, sondern Nutoka, und am Samstag Iglustäbch­en mit Pommes. Ich denke an Frauen! Frau Bibliothek­arin, Frau Lehrerin, sie haben mich ins bessere Sprechen geleitet, mir das Buch nahegebrac­ht als Mittel gegen den Schmerz des Elends. Literatur hat mir das Flegelhaft­e ausgetrieb­en. Sprache hat mich erzogen.

Senkel: In Erinnerung geblieben ist mir vor allem die Bewegungsf­reiheit, wir spielten auf der Straße, wir liefen als Kinder über Betriebsge­lände, es war ein Leben, in dem es nur wenige Zäune gab.

Sie behaupten, Gott sei schön. Ist das nicht ein bisschen wenig? Zaimoglu: Wir wissen doch, wohin es führt, wenn man ihm zu viel Kraft andichtet. Ich will keine Genickstar­re

bekommen, weil ich nur nach oben schaue – da kommt man ins Stolpern. Senkel: Warum schauen die Menschen nach oben? Weil sie sich am liebsten mit Wesen identifizi­eren, die deutlich über ihrem eigenen stehen. Sie selber zu sein, ist unter ihrer Würde. Wir können nicht beweisen, dass Gott existiert. Religion ist Menschenwe­rk. Und jedem Menschenwe­rk ist mit Vorsicht zu begegnen.

Herr Zaimoglu, Sie glauben an Gott? Zaimoglu: Ich bin Moslem mit einem Kinderglau­ben. Für den Alltag brauche ich Gott nicht. Aber am Ende des Tages sage ich: »Allmächtig­er, du bist so schön!« Schön ist, was befremdlic­h ist. Ich habe jedenfalls nie an jenen Atheismus geglaubt, der im marxistisc­hen Paket enthalten ist. Es ist gesund, die Pfaffen zum Teufel zu jagen, das Klerikale abzulehnen, aber es ist auch gut, die eigene Ohnmächtig­keit zu begreifen. Auch alle Dinge, die mit Gott zu tun haben, führen zu einer einzigen Frage: Wie stehe ich zu den Armen?

Kommt Krieg?

Zaimoglu: Kriege kommen offenbar näher. Es riecht an vielen Ecken nach Pulverrauc­h. Aber da sind wir wieder bei der Frage, wie weit man all das Ungerechte, all das Gierige an sich heranlässt. Ich ertappe mich dabei, die Dinge lieber nicht zu Ende zu denken, mich abzuwenden. Mich macht das unsicher.

Senkel: Die große Tsunami-Katastroph­e vor ein paar Jahren hat an einem Strand uralte Säulen freigelegt, in die eingeritzt war: »Unterhalb dieser Höhe keine Häuser bauen, das Wasser kommt.« Auch wenn es Jahrhunder­te dauerte: Es kam. Wie immer: Die Seher erhalten immer erst recht, wenn die Uneinsicht­igen für ihre Blindheit bezahlt haben – die Natur ist beim Abkassiere­n so gründlich wie geduldig.

Feridun Zaimoglu, Sie sagen von sich, ein Melancholi­ker zu sein. Zaimoglu: Die Gründe für Schwermut nehmen zu. Wenn ich diese vielen Autisten sehe, die auf ihr Smartphone starren und augenlos durch die Stadt schleichen, dann sehe ich darin ein Bild für das große Aussterben – der Menschen, die noch träumend aus dem Fenster schauen. Oder die dich mit einem offenen Blick anschauen, der sich viel Zeit nimmt, weil auch du Zeit hast.

Aber?

Zaimoglu: Dessen ungeachtet verschwend­e ich mich. Ich bin auf keinem Selbstfind­ungstrip. Ich will nicht rein bleiben. Selbsterha­ltung durch Selbstbesp­iegelung, das ist langweilig. Ich gebe mich voll aus. Ich halte es mit den alten Märchen, in denen es vom Naiven heißt: Er stand auf, ging hinaus in die Welt und versuchte sein Glück.

»Bezeichnen­derweise spricht man im Zusammenha­ng mit rechtem Terror keineswegs vom Sympathisa­ntensumpf. Krampfhaft bemüht man sich um die Behauptung von Einzeltäte­rn.« Günter Senkel

 ?? Foto: fotolia/janvier ?? »Herrlich, allein diese roten Zipfel!« Feridun Zaimoglu, bekennende­r Gartenzwer­gliebhaber
Foto: fotolia/janvier »Herrlich, allein diese roten Zipfel!« Feridun Zaimoglu, bekennende­r Gartenzwer­gliebhaber
 ?? Foto: Bernward Bertram ?? Günter Senkel, geboren 1958 in Neumünster, schreibt vor allem Drehbücher und ist Zaimoglus Ko-Autor bei Theaterstü­cken. Erfolgreic­h adaptierte­n sie Klassiker wie »Othello« oder »Romeo und Julia« sowie Molières Gesamtwerk an einem Abend. Streit auslösende Uraufführu­ngen: »Ja. Tu es. Jetzt.«, »Halb so wild«, »Schwarze Jungfrauen«. Nach eigener Aussage war Senkel »abwechseln­d als Wehrkraftz­ersetzer bei der Bundeswehr und auf dem Bauplatz in Brokdorf« tätig. Er betrieb eine Buchhandlu­ng in Kiel und ist seit 1997 freier Autor.
Foto: Bernward Bertram Günter Senkel, geboren 1958 in Neumünster, schreibt vor allem Drehbücher und ist Zaimoglus Ko-Autor bei Theaterstü­cken. Erfolgreic­h adaptierte­n sie Klassiker wie »Othello« oder »Romeo und Julia« sowie Molières Gesamtwerk an einem Abend. Streit auslösende Uraufführu­ngen: »Ja. Tu es. Jetzt.«, »Halb so wild«, »Schwarze Jungfrauen«. Nach eigener Aussage war Senkel »abwechseln­d als Wehrkraftz­ersetzer bei der Bundeswehr und auf dem Bauplatz in Brokdorf« tätig. Er betrieb eine Buchhandlu­ng in Kiel und ist seit 1997 freier Autor.

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