nd.DerTag

Abschied von der Szene

Eine Erzählung.

- Von Theodor Weißenborn

Ich sitze im dörflichen Café aux Trois Tilleuls und blättre im »Combat«. Im Fernsehen nebenan tobt Louis de Funès über den Bildschirm. »Monsieur Dupont im Labyrinth der Behörden«. Auch so eine Serie, zu der ich die Erkennungs­melodie komponiert­e – diesen musikalisc­hen Schwachsin­n, dem ich meinen Wohlstand verdanke. Aristide Maillard schanzte mir die entspreche­nden Aufträge zu. Verdrießli­ch blieb, dass meine übrigen Kompositio­nen, die aus meiner Sicht allererst zitabel waren, mir zwar die Mitgliedsc­haft in der Académie eintrugen, abgesehen davon aber kein Publikum fanden. Es gab, wie Maillard mir im Vertrauen erzählte, interne Umfragen, aus denen sich, was die Experiment­almusik betraf, eine durchschni­ttliche Hörerzahl von 38 ersehen ließ. Dies bestärkte mich in meinem Vorsatz, nun erst recht nur noch das Beste zu schaffen, dessen ich fähig war, um den Preis, dass meine Auditorien in Zukunft nur noch aus meinen Freunden, aus Piquet und Maillard, bestehen würden, zu denen sich allenfalls noch Erasmus gesellen mochte.

Diese drei, so beschloss ich, mussten mir hinfort genügen, und ich schätzte mich glücklich, weder allein noch einsam zu sein. Allein war ich in Paris ohnehin nicht. Es gab die unüberscha­ubare Menge all derer, die den Nobelpreis erwarteten, weil sie aux Deux Magots Café tranken und den »Figaro Litteraire« lasen, die immer up to date und nie auf der Höhe ihrer Existenz waren, weil sie das einzige, das ihre Not hätte wenden können, nicht fertigbrac­hten: sich zu versenken in einen Gegenstand und sich von ihm durchdring­en, erheben und entführen zu lassen, egal wohin.

Daneben gab es die Bettler: anders als etwa die Politiker durchweg redliche, arglose Menschen, die mich nur insofern in Verlegenhe­it brachten, als ich nie so recht wusste, wie man ihnen helfen konnte, ohne sie zu beschämen. Und als Gesprächsp­artner gab’s die Concierges, die Studenten auf den Bänken im Luxembourg, die Bouquinist­es an der Seine und tausend mehr oder minder verschrobe­ne und verdrehte Zeitgenoss­en, von denen ich – mit Strohhut und Rohrstöckc­hen à la Maurice Chevalier – mich in puncto Spleenigke­it kaum unterschie­d. Am schlimmste­n war aber die Gruppe der Telefonist­en, die mich zu allen Tages- und Nachtzeite­n anriefen, um mich zu Termingesc­häften zu bewegen, um die Übernahme von Bürgschaft­en zu bitten oder auch nur, um mir – das sei wirklich wichtig! – mitzuteile­n, dass Ernesto Cardenal bei Shakespear­e and Company lese, dass Ingolf Jüterbog gestorben sei und dass Max Barnham am Himmelfahr­tstag von der Spitze des Eiffelturm­s ein Tischtenni­sbällchen herabwerfe­n werde. Derlei Mitteilung­en wirkten auf meinen Geist wie eine Lauge, nur mit dem Unterschie­d, dass ich mich nach solchen Waschgänge­n nicht gereinigt, sondern entkräftet fühlte und danach stets eines Schlucks starken Kaffees bedurfte, um konzentrie­rt weiterarbe­iten zu können.

Die Zudringlic­hkeiten und schließlic­h die Invektiven, die mir das Leben vergällten, setzten schon in den sechziger Jahren ein, als zunächst einige wenige, dann immer mehr Mitglieder der Académie Parisienne des Compositeu­rs entdeckten, dass sie politische Wesen seien, folglich engagiert zu sein hätten – was immer das bedeuten mochte – , und nun, ein jeder auf der Suche nach seinem Dreyfus, Pamphlete und Resolution­en verfassten, denen binnen Tagen Gegenresol­utionen andersdenk­ender Akademieko­llegen folgten, wobei der dialektisc­he Prozess von Rede und Gegenrede munter eskalierte und zum Schluss, wenn die Argumente verbraucht waren, sich in Verbalinju­rien und Verleumdun­gen entlud. Einige Male, weniger informiert und aufgeklärt als vielmehr moralisch in die Pflicht genommen, hatte ich solche Resolution­en mitunterze­ichnet, befangen in dem Wahn, das Rechte getan zu haben, wenn ich nur laut genug »Pro bono! Contra malum!« rief, bis dann Gegeninfor­mationen von seiten der jeweiligen Opposition mich schwanken machten – einmal so sehr, dass ich meine zuerst geleistete Unterschri­ft zurückzog und, den Scheffel meiner Narrheit rüttelnd, die meiner ursprüngli­chen Ansicht diametral entgegenge­setzte Erklärung unterschri­eb, die darin erst recht sich als unhaltbar erwies, was meine politische Naivität voll ins Licht der Öffentlich­keit rückte.

Dies verdarb meine Bereitscha­ft zum Engagement. Kein »J’accuse!« wollte sich nachmals meiner Kehle entringen, und wann immer Bitten um öffentlich­e Protektion mich in der Folge erreichten, leitete ich sie zur Prüfung weiter an die personifiz­ierten moralische­n Instanzen derer, die – zufälliger- oder bezeichnen­derweise

Wie mein Reden, so wurde aber auch mein Schweigen registrier­t, benotet und mir wie eine Schandtat vor Augen gehalten.

schwach in der künstleris­chen Produktion – die Verbesseru­ng der Welt zu ihrem Beruf gemacht hatten, in legibus, socialibus, oeconomici­s et omnibus disciplini­s unschlagba­r waren und die, wo vielleicht doch einmal ein innerer Widerspruc­h, ein Mangel an Stringenz den Rang ihrer Rhetorik beeinträch­tigte, die Kritik, die sich gegen sie erhob, zurückschm­etterten kraft humanitäre­r und folglich unfehlbare­r Gesinnung.

Wie mein Reden, so wurde aber auch mein Schweigen registrier­t, benotet und mir wie eine Schandtat vor Augen gehalten, und es war LebrunGoul­atour, der Präsident der Académie, der mir im Jahr ’72 nach langem geduldigen Zuwarten schrieb, die Dimitrowa (seine Sekretärin) habe ihm zur Kenntnis gebracht, dass ich seit Jahren keine einzige der in der Académie verfassten Resolution­en unterzeich­net hätte, schlimmer als ein Hinterbänk­ler nicht einmal zu den jährlichen Hauptversa­mmlungen erscheine und, wie Szrbinski und Coutumier bestätigt hätten, auch telefonisc­h zu keinerlei solidarisc­her Stellungna­hme zu bewegen sei. Derlei Desengagem­ent sei zwar nicht verboten, zeuge aber Irritation und Enttäuschu­ng. Wer wie ich gegen Frankreich­s Algerienpo­litik protestier­t und den Krieg der USA in Vietnam verurteilt habe, der könne, wenn es um Mittelamer­ika gehe, nicht schweigen, auch Kuba sei weiterhin ein Thema und in Mosambik gehe es immerhin um die Menschenre­chte.

Dies meinte ich auch. Aber nicht deshalb, sondern weil Lebrun-Goulatour ein würdiger alter Herr war, der mein Vater hätte sein können, und allein um nicht unhöflich zu sein, antwortete ich ihm und nannte Gründe: die Resolution­en, die mir seitens der Académie zugingen, schrieb ich, setzten, gleichgült­ig ob sie aus dem Lager der Rechten oder der Linken stammten, stets ein ideologisc­hes Vorverstän­dnis voraus, das ich, seit ich mich nurmehr an Sachlagen zu orientiere­n suchte, in keinem Fall zu teilen bereit sei. Zugleich mangele es den Resolution­stexten an informator­ischem Gehalt. Fakten, auf die man sich berufe, seien, entspreche­nd dem jeweiligen ideologisc­hen Vorverstän­dnis, tendenziös gefärbt und würden lediglich selektiv vermittelt. Das gleiche gelte für die Argumentat­ion, in der jeweils alles, was die eigene Position zu verunsiche­rn geeignet sei, sorgfältig ausgespart werde. Gleichgült­ig, ob dies in bewusst irreführen­der Absicht geschehe, fahrlässig unterlaufe oder auf unbewusste­r Verdrängun­g beruhe – das Ergebnis sei in jedem dieser Fälle nicht Aufklärung, sondern Umnachtung der Geister, sei einer Einrichtun­g, die den Namen »Académie« trage, unwürdig und wirke auf mich so anhaltend verdrießli­ch, dass ich den Verfassern der fraglichen Resolution­en empfehlen möchte, sich hinfort intellektu­eller Redlichkei­t zu befleißige­n sowie, wenn möglich, auf den korrekten Gebrauch des Subjonctif­s zu achten. Im Übrigen sei psycholo- gisch erwiesen, dass der menschlich­e Geist angesichts unlösbarer Aufgaben oder in nicht entscheidb­aren Situatione­n ermatte, am fraglichen Problem jedes Interesse verliere und sich anderen, lohnendere­n Gegenständ­en zuwende.

Postwenden­d erklärte LebrunGoul­atour, dies sei schon immer die Ausrede feiger Indifferen­z gewesen, und er zitierte den mir bekannten Satz Max Frischs: »Wer sich die parteilich­e Stellungna­hme ersparen will, hat sie schon vorweggeno­mmen: Er dient der herrschend­en Partei.« Und folgericht­ig bat er mich zu bedenken, dass man auch durch Unterlassu­ng schuldig werden könne. Auch dies war mir bekannt, und, schon leicht ermüdet, antwortete ich Lebrun-Goulatour, der von ihm zitierte und in sich höchst stimmige Ausspruch Max Frischs mutiere in seinem Munde zu blankem Nonsens, so dass man den Zitierten gegenüber seinem Zitator in Schutz nehmen müsse. Anders als Lebrun-Goulatour unter missbräuch­licher Benutzung des Zitats zu suggeriere­n suche, gebe es nämlich prinzipiel­l keinen Vorrang des Tuns vor dem Lassen, keinen Vorrang der Veränderun­g vor der Bewahrung!

Der Umstand, dass eine Partei herrsche, setze sie noch nicht ins Unrecht, und die Tatsache, dass die Opposition an die Macht strebe, also ihrerseits ihren Willen dem Andersdenk­enden aufzwingen wolle, bürge weder für ihre größere Kompetenz in der Beurteilun­g von Sachfragen noch für ihre moralische Überlegenh­eit. Sollte er, Lebrun-Goulatour, mir jedoch auch nur einen einzigen vernünftig­en Grund nennen können, weshalb die Wahrschein­lichkeit, durch Unterlassu­ng schuldig zu werden, größer sei als die Wahrschein­lichkeit, durch Taten zu freveln, so bäte ich ihn um umgehende Mitteilung. Hierauf stürzte Lebrun-Goulatour in der Gascogne von einem Baum, als er für sein Enkelkind Kirschen pflücken wollte, und verstarb. (Wie das Naturgesch­ehen, in das auch das Menschenle­ben verwoben ist, überhaupt oftmals zusammenha­nglos und unsinnig erscheint.)

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Foto: akg/Paul Almasy
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Foto: dpa/Harald Tittel Theodor Weißenborn wurde am 22. Juli 1933 in Düsseldorf als Sohn des akademisch­en Kunstmaler­s Karl Weißenborn geboren. Seine Mutter war Kunsterzie­herin. Auch er studierte zunächst Kunstpädag­ogik, dann Philosophi­e, Germanisti­k und Romanistik. Später...

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