nd.DerTag

Besser mit Behinderun­g studieren als gar keinen Spaß

Wie man als Rollstuhlf­ahrer seinen Weg zum Doktortite­l gehen kann.

- Von Karsten Lippmann

Den Untertitel verdankt dieser Text Peter Frenkel, dem Olympiasie­ger im 20-kmGehen von 1972. Er war einer der Zeitzeugen für meine Dissertati­on, und man kann sagen, dass wir inzwischen auch Freunde sind. Als die Buchversio­n meiner Arbeit im Januar dieses Jahres im Olympia-Museum in Köln vorgestell­t wurde, bat auch ich die anwesenden Sportler um eine Unterschri­ft und eine kurze Signatur. »Geh’ deinen Weg«, schrieb Peter, und ich finde das sehr passend.

Das Ende der Geschichte ist damit erzählt, und es wird Zeit, zu ihrer Mitte zu springen. Dort steht der Satz: »Dann würde ich sagen, Sie fangen an.« Gesprochen wurde er von einem Leipziger Professor im Februar 2008. Damals war ich an einem Punkt angelangt, vor dem das Studium für die meisten bereits beendet ist: Wir hatten uns auf ein Thema für meine Dissertati­on geeinigt.

Muss ich erwähnen, dass von irgendeine­r Form der Bezahlung durch den Lehrstuhl oder die Uni keine Rede war? Geisteswis­senschaftl­iche Arbeit ist schließlic­h eine so lohnende Sache, dass das als Antrieb völlig ausreicht. Zum Glück waren meine Eltern gerne bereit und in der Lage, meine geistigen Abenteuer zu finanziere­n.

Ich kenne die bösartigen Gerüchte, nach denen Studierend­e kellnern oder Doktorande­n sich so in das Labyrinth der Bundespoli­tik verstricke­n, dass sie ihre Dissertati­on nicht mit Anstand zu Ende bringen und später als Verteidigu­ngsministe­r zurücktret­en müssen. Das kann aber alles gar nicht wahr sein – Deutschlan­d ist schließlic­h »eine Bildungsre­publik«, sagt Frau Merkel.

Doch neben dem Studium »sachfremde Tätigkeite­n« auszuführe­n, seien sie nun nützlich oder überflüssi­g, war für mich sowieso nicht möglich. Seit meiner Geburt bin ich spastisch gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Trotzdem entschied ich schon sehr früh zu studieren. Das hatte erstens mit meinem Interesse für Geschichte zu tun und zweitens damit, dass ich die Grenzen meiner berufliche­n Möglichkei­ten begriff. Und schließlic­h legte ich im Jahr 2002 ein sehr gutes Abitur ab.

Wie schwierig die Dinge trotzdem sind, begriff ich bei einem Gespräch in der Agentur für Arbeit. Die Mitarbeite­rin belehrte mich, dass zur Umsetzung meiner Pläne ein Abitur notwendig sei. Ich verwies auf mein Zeugnis. Sie schien betroffen. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte sie schließlic­h. »Berlin, HU.«, antwortete ich. »Wieso das?« »Da lehren einige Professore­n, bei denen ich mir eine Promotion vorstellen kann.« Ich nannte Namen. Trotzdem war ihr Urteil über meinen Geisteszus­tand unveränder­t. – »Zu Berlin kann ich Ihnen nicht raten. Der Campus liegt sehr verstreut.« »Welcher?«, fragte ich. »Alle.«

Dann griff sie schnell und wortlos zu einer Broschüre. Darauf waren allerhand schematisi­erte Figuren abgebildet, die handwerkli­che Arbeiten verrichtet­en. Ich zeigte auf einen Schornstei­nfeger und begann zu lachen: »Ist das Ihr Ernst?« Sie überlegte merkbar, was gerade so komisch sei, und unterwies mich dann: »Na, dafür kommen Sie natürlich nicht infrage. Aber wir vermitteln viele Schwerbehi­nderte in solche Maßnahmen. Kommen Sie in einem Jahr wieder, dann sind Sie langzeitar­beitslos und haben da gute Chancen.«

Nach dieser Beratung entschied ich mich doch lieber für ein Grundstudi­um in Magdeburg. Das liegt nahe an meinem Wohnort und ich hielt es behinderun­gsbedingt für nötig, an Unitagen dorthin zu pendeln. Ich selbst kann jedoch kein Kraftfahrz­eug führen und auch keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel benutzen. Das örtliche Sozialamt bewilligte schließlic­h einen Fahrdienst. Diese Unterstütz­ung musste jedoch für jedes Semester neu beantragt werden, und zwar unter Vorlage meines Studienpla­nes.

Deshalb war ich entschloss­en, mein Grundstudi­um schnell zu ab- solvieren. In Magdeburg begegneten mir, wie auch später in Leipzig und in Köln, ganz überwiegen­d sehr freundlich­e Lehrkräfte. Trotzdem gab es auch merkwürdig­e Vorfälle: Nach dem Blick auf meinen Stundenpla­n strich beispielsw­eise der Leiter eines meiner Seminare im ersten Semester einfach Veranstalt­ungen heraus. Ungefragt sagte er mir, sonst sei das zu viel für mich. Allerdings fügte er gleichzeit­ig auch seine eigene Vorlesung ein. Ich entgegnete: »Erstens: Was mir zu viel wird, bestimme ich, nicht Sie. Zweitens ist Ihnen sicher aufgefalle­n, dass der Plan genau auf doppeltes Standardte­mpo ausgelegt ist. Das hat damit zu tun, dass ›mein‹ Sozialamt mir für jedes Semester die Fahrtkoste­n bewilligen soll und unklar ist, wie lange es das tun wird. Sie haben mir soeben den Plan auf Normaltemp­o gekürzt. Soll ich das als Angebot verstehen, Ihrerseits meine Fahrtkoste­n für zwei Semester zu übernehmen?« Er war überrascht; mein Plan blieb, wie ich ihn gemacht hatte, und wurde auch umgesetzt.

*

»Von innerer und äußerer Freiheit. Eine Zensur findet nicht statt.« – Bis zu dieser Stelle war ich in einem Text gekommen und ging dann zu Bett. Albträumen­d fand ich mich in einem Zimmer der Agentur für Arbeit wieder. Eine Mitarbeite­rin hielt mir diesen Artikel vor: »Wieso schreiben Sie solche Sachen?« – »Weil sie wahr sind«, ant- wortete ich. »Der dümmste aller Gründe«, beschied sie. Ich erwachte.

Der Leser, der vermutet: »Der hat leicht reden. Sein Weg zum Doktortite­l war nicht einfach, aber jetzt hat er bestimmt einen guten Job«, irrt sich. Ich könnte, wie fast jeder oder jede, bald auf die Agentur für Arbeit angewiesen sein. Wäre es also nicht besser, eine andere Begebenhei­t vorzutrage­n? Wie wäre es mit der Solidaritä­tsaktion für das Personal im »akademisch­en Mittelbau« an der HU? Normalerwe­ise meide ich Demonstrat­ionen, weil ich schwer »Schritt halten« kann. Doch der SDS, die Studenteno­rganisatio­n der Linksparte­i, diskutiert­e nicht: »Diesmal kommst du mit. Du könntest ja auch betroffen sein.« Einer half mir immer, dass ich mitkam. Das war eine schöne Erfahrung.

Aber hätte ich wirklich betroffen sein können? Ich erinnerte mich an meine Bewerbung um eine Doktorande­nstelle bei einem großen deutschen Forschungs­institut: Es war, wie es in unserer »Bildungsre­publik« inzwischen schlechter Brauch ist, eine halbe Stelle, entspreche­nd dürftig bezahlt und auf zwei Jahre befristet, doch immerhin. Fachlich war ich der beste Bewerber, wie ich sicher weiß. Aber als Rollstuhlf­ahrer bekam ich den Job nicht. Mit Diskrimini­erung hatte das, natürlich, nichts zu tun. Der Sachzwang war schuld. Mein Büro hätte im 6. Stock gelegen und das Gebäude hatte, leider, keinen Fahrstuhl. Doch der Zensor in meinem Kopf meldet auch gegen die Öffentlich­machung der letzten Begebenhei­t Bedenken an. Immerhin hat die Sache allen Beteiligte­n ganz furchtbar leidgetan. Sie ließen ein eindeutige­s Gespräch mit mir führen. Verwertbar­e Beweise überließen sie mir dabei aber nicht, für eine Klage gab es keine Basis. Auf diese wunderbare Weise konnte ein Fall von Diskrimini­erung gar nicht erst entstehen.

Dafür können die Leser aus diesem Beispiel ersehen, wie der Eindruck jener fast paradiesis­chen Zustände erzeugt wird, von denen uns viele Medien vorsingen. Doch gibt es ja auch solche, die das nicht tun. Wir alle müssen uns engagieren, um diese Gesellscha­ft zu verbessern. Das heißt auch, den Zensor in sich selbst zu überwinden und Missstände­n entgegenzu­treten, wo sie uns begegnen. Nichts wird besser, wenn wir nur schweigen, in Hoffnung auf den bequemen Weg, auf dem wir selbst nicht anecken.

Als Rollstuhlf­ahrer zu studieren und einen Platz im real-existieren­den Kapitalism­us zu finden, heißt, dass selbst bequeme Wege nicht zu gehen sind. Diese Erkenntnis erleichter­t und erschwert die Dinge gleicherma­ßen. Der Autor ist Sportwisse­nschaftler. Seine Dissertati­on »… und für die Ehre unserer Nation(en) – Olympische Deutschlan­dpolitik zwischen 1960 und 1968« ist im arete-Verlag erschienen (512 S., br., 49,95 €).

»Kommen Sie in einem Jahr wieder, dann sind Sie langzeitar­beitslos und haben gute Chancen.« Berufsbera­terin, Agentur für Arbeit

 ?? Abb.: iStock/Contributo­r ??
Abb.: iStock/Contributo­r

Newspapers in German

Newspapers from Germany