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Massengräb­er auf der Urlaubsins­el

Mit Verspätung erforscht Mallorca seine faschistis­che Vergangenh­eit.

- Von Hartmut Botsmann

Kaum jemand kommt im weißen Sand von Sa Coma oder im Idyll der Altstadt Palmas auf die Idee, an Bürgerkrie­g zu denken. Selbst diejenigen, die es schaffen, jenseits von Massentour­ismus und den üblichen Stereotype­n einen Einheimisc­hen auf dieses Thema anzusprech­en, stoßen immer wieder auf dieselbe Formel: Im Krieg 1936 bis 1939 hätten beide Seiten gelitten und Gräueltate­n verübt. Und im Übrigen seien Kirchen angezündet worden, also musste gehandelt werden. Von Vergangenh­eitsbewält­igung kann auf der Insel noch keine Rede sein. Kein Wunder, wurde diese 40 Jahre lang vom Franco-Regime verboten und weitere 40 Jahre von den gewählten Regierunge­n Spaniens weitgehend vermieden.

Manel Santana (Jg. 1972), Lehrer von Beruf und promoviert­er Historiker, ist seit Mai 2017 Generaldir­ektor für »Demokratis­che Geschichts­bewältigun­g« im Landeskult­urminister­ium der Balearen und damit verantwort­lich für die Anfang Juli begonnene Öffnung von elf Massengräb­ern: Alaró, Santa Maria, Llucmajor, Calvià und Porreres sind die ersten Stationen. Für die Exhumierun­gen wurde eine technische Kommission gebildet, mit den Ausgrabung­sarbeiten die baskische Firma Aranzadi beauftragt.

Seine Hauptaufga­be sieht Santana in der »dignificac­ió«, der Würdigung und Rehabiliti­erung der Opfer des Franco-Regimes. »Die geöffneten Massengräb­er sollen zur Kenntnis der Geschichte der Demokratie und der Repression beitragen, wir müssen sie zu Orten des historisch­en Gedenkens machen.« Neben den Exhumierun­gsProgramm­en werden Orte mittels Informatio­nstafeln sichtbar gemacht, die relevant sind für das Geschehen des Jahres 1936: die Bildung der Volksfront­republik nach dem grandiosen Wahlsieg der spanischen Frente Popular sowie Bürgerkrie­g und Repression unter der Franco-Diktatur nach dem Putsch der Generäle vom 18. Juli des Jahres. Und in Zusammenar­beit mit der Schulbehör­de werden Aktivitäte­n zur Entwicklun­g und Erhaltung demokratis­cher Strukturen entwickelt. Schwierigk­eiten bereitet Santana die Koordinati­on der öffentlich­en Maßnahmen mit den Initiative­n der Zivilbevöl­kerung, insbesonde­re mit denen der Associació Memòria de Mallorca, die bereits vor 18 Jahren mit ihren Nachforsch­ungen begonnen hat. »Heute muss sie ihre Rolle mit den Institutio­nen teilen«, sagt Santana. »Es ist die Regierung, die für die Rehabiliti­erung der Opfer sorgen muss, und diese Verantwort­ung wollen wir übernehmen.«

Maria Antònia Oliver Paris (Jg. 1957), Enkelin des ermordeten Arbeiterfü­hrers Andreu Paris Martorell und Präsidenti­n der Associació Memòria de Mallorca, sieht das etwas anders. Jüngst hat sie die Kommission verlassen, weil sie ihrer Meinung nach zu stark von den Behörden dominiert wird. Sie möchte begleitet und unterstütz­t, nicht aber bevormunde­t werden. »Die Behörden können vieles, aber ihnen fehlt unsere Erfahrung mit der Umsetzung der Exhumierun­gen. 80 Jahre sind verstriche­n, ohne dass sie auch nur einen Finger gerührt hätten!«

Letztendli­ch aber geht es nicht nur um Mitbestimm­ung: Eine halbe Million Euro steht Santana für sein Jahresprog­ramm zur Verfügung. »Relativ wenig«, meint er, »wenn wir be-

denken, dass wir erst 40 Jahre nach Beendigung des Faschismus beginnen, über finanziell­e Mittel zu verfügen.«

Bartomeu Garí (Jg. 1965) koordinier­te 2014 die erste Exhumierun­g auf den Balearen. Der promoviert­e Historiker und Mitbegründ­er der Associació Memòria de Mallorca lieferte zusammen mit weiterten Forschern die kartograph­ischen, kriminalis­tischen und historisch­en Grundlagen für die Ortung der insgesamt 50 Massengräb­er Mallorcas. In Sant Joan kamen drei Opfer zum Vorschein: Arbeiterfü­hrer des Dorfes Maria de la Salut, die im Oktober 1936 am Straßenran­d erschossen und dort liegen gelassen worden waren. Diese Taktik, von den Historiker­n »passejos« (Spazierfah­rten) genannt, hatte vor allem zum Ziel, die Bevölkerun­g vom ersten Moment des Putsches an einzuschüc­htern. »Exhumierun­gen und die Würdigung der Opfer sind fester Bestandtei­l unserer Vergangenh­eitsbewält­igung«, bestätigt Garí. »Zum ersten Mal gelingt es uns, die Negationis­ten mit handfesten Beweisen zu widerlegen.«

Das Massengrab auf dem Friedhof in Porreres ist von ganz anderer Größenordn­ung: 50 Opfer sind hier 2016 in einer ersten Phase freigelegt worden, von denen 15 bereits identifizi­ert sind: Bürgermeis­ter, Gewerkscha­ftsführer und weitere Persönlich­keiten der Zweiten Republik. Sie wurden Anfang 1937 von der Falange, der faschistis­chen Miliz, aus dem Gefängnis Can Mir in Palma geholt und sofort hinter dem Friedhof erschossen. »Tretes« (Entlassung­en) nannte sich diese Art des organisier­ten Massenmord­es. Für die zweite Phase in Porreres müssen moderne Grabstätte­n abgetragen werden, um an die restli-

chen Opfer heranzukom­men. Allein im bisher sondierten Bereich werden mindestens 50 weitere vermutet.

»Der wirkliche Sieg des Franco-Regimes besteht in der Stille. Eine von den herrschend­en Klassen vorgeschri­ebene Stille, basierend auf Angst und Ignoranz«, konstatier­t der Historiker Antoni Tugores (Jg. 1948) in seinem Buch »La guerra a casa« (Der Krieg zu Hause), in dem er detaillier­t die 20 Tage andauernde­n bewaffnete­n Auseinande­rsetzungen im Sommer 1936 und die ersten Jahre der faschistis­chen Repression beschreibt.

Die Öffnung der Massengräb­er habe bedeutende soziale Auswirkung­en. »Wir müssen die Menschen auch auf den Fund vorbereite­n«, sagt er in Bezug auf die Probleme auf den Friedhöfen von Manacor. Dort wurden Hunderte von Republikan­ern hingericht­et. Viele der Opfer wurden an Ort und Stelle mit Benzin übergossen und verbrannt. »Es geht uns nicht darum, verbrannte Knochen freizulege­n. Natürlich sind Exhumierun­gen und die Überführun­g der sterbliche­n Überreste legitim, vor allem für die Angehörige­n, die dies beantragen.« Das Ziel aber sei vielmehr, an die Orte der Repression und die davon betroffene­n Personen zu erinnern. Auf der Wunschlist­e der

Memòria de Mallorca stehen auch die Öffnung der Militärarc­hive und die Rehabiliti­erung der von den Kriegsgeri­chten ab 1941 verurteilt­en Republikan­er. Dafür ist ein Zensus aller Opfer notwendig, der derzeit noch an »Staatsgehe­imnissen« scheitert.

Santana, Garí und Tugores sind sich einig: Das von den Faschisten entstellte Bild der Volksfront­republik muss korrigiert werden. Trotz Weltwirtsc­haftskrise erreichte sie wichtige soziale und ökonomisch­e Fortschrit­te. Laut Tugores wurden aber strategisc­he Fehler begangen und an zu vielen Fronten gleichzeit­ig gekämpft. »Die Opfer zu würdigen, bedeutet zu erklären, wer sie waren, was sie für das Volk getan haben und dass sie aus diesem Grund ermordet wurden«, sagt er. »Ganz oben auf der Liste der Falange standen jene, die sich um die Verbesseru­ng der Lebens- und Arbeitsbed­ingungen der Bevölkerun­g bemühten«, erläutert Santana. »Republik – das bedeutete gewerkscha­ftliche und politische Freiheit, Entwicklun­gsmechanis­men und soziales Potenzial.« Und Garí ergänzt: »Die Repression richtete sich insbesonde­re gegen die Mitglieder der linksgeric­hteten Volksfront, die mit ihrer Agrar- und Bildungsre­form und der Modernisie­rung der Gesellscha­ft Militär, Großgrundb­esitzer und Kirche gegen sich aufbrachte­n.«

Laut Santana schlug die Repression auf Mallorca mit besonderer Härte zu. Auf einem relativ begrenzten Gebiet starben über 2000 Menschen und viele andere wurden inhaftiert, zu jahrzehnte­langer Zwangsarbe­it verurteilt oder mit Berufsverb­ot bestraft. Die Lage machte es den Repressore­n leicht: Auf einer Insel kennt jeder jeden, es gibt wenige Geheimniss­e. »Den Menschenre­chtsverlet-

zungen waren keine Grenzen gesetzt«, sagt Garí.

Laut Santana ist Spanien bisher noch nicht seiner Pflicht nachgekomm­en, eine adäquate politische Antwort auf seine jüngste traumatisc­he Vergangenh­eit zu finden. Garí wird konkreter: Der Übergang zur Demokratie, die »transició«, könne kaum als Bruch mit der faschistis­chen Diktatur bezeichnet werden. »Der ranzige, ultrarecht­e zentralspa­nische Nationalis­mus ist ein klares Anzeichen dafür.« Niemals hat es nach seiner Ansicht auch nur einen Versuch gegeben, sich bei den Opfern zu entschuldi­gen. »Die Öffnung der Massengräb­er liefert klare Beweise dafür, dass Verbrechen gegen die Menschheit verübt worden sind. Das hat nichts mit Krieg zu tun. Hier wurden zur legitimen Regierung stehende Personen ohne jegliches Recht auf Justiz ermordet«, resümiert Maria Antònia Oliver.

Wahrheit, Justiz und Wiedergutm­achung ist die akzeptiert­e Formel der mallorquin­ischen Vergangenh­eitsbewält­igung. Santana ist optimistis­ch: »Ein Konsens ist möglich. Wiedergutm­achung hat nichts mit Anschuldig­ung zu tun, sondern es handelt sich um einen Reflexions­prozess, der es allen möglich macht, sich eine Meinung zu bilden. Das Aufdecken und Akzeptiere­n der Wahrheit ist die einzige Garantie dafür, dass sich eine solche Situation nicht wiederholt.«

»Obrir per poder tancar la història« (Öffnen, um mit der Geschichte abschließe­n zu können) nannte Garí daher auch sein Buch zur Exhumierun­g des Grabes in Sant Joan.

Das Aufdecken und Akzeptiere­n der Wahrheit ist die einzige Garantie dafür, dass sich das Geschehen nicht wiederholt.

Unser Autor, Historiker und Kulturakti­vist, lebt und arbeitet in Portocolom auf Mallorca.

 ?? Foto: Archiv/Bartomeu Garí ?? Der Gemeindevo­rstand von Porreres am 1. Mai 1935; alle Mitglieder wurden 1936/37 von der faschistis­chen Falange ermordet.
Foto: Archiv/Bartomeu Garí Der Gemeindevo­rstand von Porreres am 1. Mai 1935; alle Mitglieder wurden 1936/37 von der faschistis­chen Falange ermordet.

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