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Warum war der Berg so wichtig?

Ein Gang durch Historial, Krypta und Schützengr­äben bringt die dramatisch­e Geschichte des Hartmannsw­illerkopfs in den Vogesen auch Kindern näher.

- Von Geraldine Friedrich

Der Achtjährig­e steht mit seinem Vater auf einer Anhöhe und schaut auf die grandiose Bergwelt der Vogesen. »Von hier hat man eine 180Grad-Aussicht«, erklärt Gilbert Wagner, ehrenamtli­cher Führer der Gedenkstät­te Hartmannsw­illerkopf. Es ist idyllisch rund um den 956 Meter hohen Berg im Elsass. Das dichte Wegenetz lockt Besucher an, auch Kinder und Jugendlich­e sind dabei.

Wagner schlägt eine Mappe auf und zeigt seinem jungen Begleiter ein Foto, auf dem nur noch Baumstümpf­e zu sehen sind. »So sah es hier vor hundert Jahren aus«, erklärt er. Vor mehr als hundert Jahren bot der »Menschenfr­esserberg« (französisc­h »Mangeur d’hommes«), wie der Hartmannsw­illerkopf auch genannt wird, ein albtraumha­ftes Panorama: Endlose Reihen abgebroche­ner Tannen, die wie Zahnstoche­r aus der Erde ragen. Eine mit Kratern durchlöche­rte kahle Landschaft, durchpflüg­t von einem 90 Kilometer langen Netz aus Schützengr­äben, überall Stacheldra­ht. Es ist ein Bild der Hölle auf Erden.

Der etwa 90-minütige Gang über das ehemalige Schlachtfe­ld, welches heute Freilichtm­useum ist, bietet harte Kontraste: Einerseits hat sich die Vegetation erholt, anderersei­ts stoßen Besucher sekündlich auf Relikte des Ersten Weltkriegs. »Siehst du hier den Krater vor uns?«, wendet sich Wagner wieder an den Jungen. »Sind da Menschen gestorben?«, will der Junge wissen. »Nun ja, wenn gerade da jemand ging, als die Granate einschlug, ist von ihm nicht viel übrig geblieben«, erklärt der Gästeführe­r.

An einer Stelle liegen deutsche und französisc­he Stellungen nur 15 Meter auseinande­r. Alte Bunker mit einer Öffnung für Periskope, die Erwachsene allenfalls gebückt betreten können, angerostet­e Horchposte­n, offene Nischen in den Schützengr­äben, in denen die Soldaten bei Minusgrade­n wochenlang ihre Nächte verbringen mussten und die Besucher heute noch betreten können. Wagner: »An so einem Tag wie heute sieht alles schön aus, doch die Schlachten fanden meistens im Winter statt. Die Soldaten starben nicht nur an ihren Verletzung­en, sondern sie erfroren auch, weil sie angeschoss­en irgendwo lagen und sie niemand abgeholt hat. Oder sie starben auf dem Weg ins Krankenhau­s.« Wagner zeigt ein Bild, auf dem Maultiere zu sehen sind. Fünf bis sechs Stunden dauerte der Transport von der fran-

zösischen Seite auf den Hartmannsw­illerkopf im Sommer, im Winter doppelt so lang. Viele der oftmals sehr jungen Schwerverl­etzten – die jüngsten Soldaten waren 17 Jahre alt – starben auf dem Weg ins Tal. Der 67Jährige erklärt im 1,70 Meter tiefen Schützengr­aben stehend, wie überlebens­wichtig es war, dass der Kopf nicht herausragt­e, und schaut teils lächelnd, teils skeptisch auf den Vater des Jungen, der mit seinen 1,97 Metern wohl schlechte Karten gehabt hätte. Wagner: »Vor hundert Jahren waren die meisten Menschen halt doch noch ein Stückchen kleiner.«

Der Hartmannsw­illerkopf ist eine der vier nationalen Gedenkstät­ten Frankreich­s, die an den Ersten Weltkrieg erinnern, und existiert schon seit 1932: In jenem Jahr wurde bereits das erste Monument mit einer unterirdis­chen, heute noch schlichtsc­hönen Krypta auf dem Col du Silberloch eröffnet. Sie liegt an der Passstraße D431, von der aus man direkt auf das nur wenige hundert Meter entfernte Schlachtfe­ld blickt. Der Gebäudeein­gang der Krypta ist umrahmt von zwei Engeln, eine Treppe führt hinab zu einer kühl temperier-

ten Gedenkhall­e. Der enge Gang hinab ist der Architektu­r eines Schützengr­abens nachempfun­den. In der Mitte der Gedenkhall­e mit drei Altären, einem katholisch­en, einem protestant­ischen und einem jüdischen, ruhen unter einer runden, mehrere Meter breiten Metallplat­te die Gebeine vieler gefallener Soldaten. »Heißt das, hier liegen nur Beine?«, will das Kind wissen. »Mit Gebeinen meint man alle Knochen«, erklärt sein Vater.

Wieder an der frischen Luft zeigt Wagner in den angrenzend­en Wald und erklärt, dass sich hier einer von insgesamt 30 Friedhöfen befand. »Die Soldaten wurden damals in ihren Kleidern, allenfalls in einer Plane beerdigt. Das konnte man nicht so lassen«, erläutert Wagner. Sie wurden exhumiert, in Särge gebettet, anschließe­nd in Einzelgräb­ern bestattet, in besagter Gedenkstät­te beerdigt oder auf Staatskost­en zu ihren Angehörige­n nach Hause gebracht.

Die im Jugendstil erbaute, mittlerwei­le mehr als 80 Jahre alte Krypta steht nur wenige Meter entfernt von dem erst 2017 eröffneten Historial, dessen Grundstein­legung bereits 2014

unter großem Medienecho in Anwesenhei­t der damaligen Staatsober­häupter Joachim Gauck und François Hollande erfolgte. Mindestens ebenso viel Echo generierte die Eröffnung des schicken Ausstellun­gsgebäudes in Sichtbeton­optik mit Frank-Walter Steinmeier und Emmanuel Macron am 10. November 2017. »Vier Staatsober­häupter in drei Jahren, das war sehr wichtig für uns«, sagt Wagner. Das 4,7 Millionen Euro teure Historial wartet mit allem auf, was moderne Ausstellun­gspädagogi­k heute bietet: interaktiv­e Elemente, etwa Listen mit Namen der gefallenen Soldaten, in denen sich auch nach dem eigenen Familienna­men suchen lässt, Originalex­ponate wie Uniformen und Granaten in allen Größen, stark vergrößert­e Fotos vom Schlachtfe­ld in 3D, für die man am Eingang Brillen erhält, sowie eigens für die Ausstellun­g gefertigte Filme, in denen Soldaten aus dem Off vom harten Leben auf dem Hartmannsw­illerkopf in IchPerspek­tive erzählen. Die Passagen sind echt und stammen aus Briefen oder Berichten von Überlebend­en. Beeindruck­end: Ein Wandteppic­h des deutschen Künstlers Thomas Bayrle zeigt eine Pietà, die sich bei näherem Hinsehen aus Tausenden Schädeln zusammense­tzt.

Die Rede ist häufig von 30 000 Toten, doch das ist falsch. »Mit 30 000 meinen wir die Zahl der Opfer, darin enthalten sind neben den Toten auch Vermisste, Verletzte und Kriegsgefa­ngene«, erläutert Wagner. Tatsächlic­h starben auf dem Hartmannsw­illerkopf 8000 bis 9000 Soldaten. Im Vergleich zu Schlachten wie etwa in Verdun mit über 300 000 Toten klingt das wenig, hierher schickte man Soldaten, damit sie sich etwas »ausruhen« konnten, berichtet Wagner. Trotzdem steht der Hartmannsw­illerkopf für die Sinnlosigk­eit eines Stellungsk­riegs, in dem Deutsche gegen Franzosen ein gutes Jahr um nur wenige paar Quadratmet­er Land kämpften. Zwischen Dezember 1914 und Januar 1916 wechselte die Anhöhe acht Mal ihren Besitzer.

Da stellt das Kind die entscheide­nde Frage: »Was ist denn so Besonderes an dem Berg?« Warum kämpften Deutsche und Franzosen auf Kosten so vieler Leben um diesen Ort? Wagner: »Es fing mit ein paar französisc­hen Aufklärern an, die auf dem Hartmannsw­illerkopf im Schnee Stiefelspu­ren von Deutschen fanden.« Damals befand sich der Berg auf reichsdeut­schem Terrain, sehr nah an der Grenze zu Frankreich. Die strategisc­he Bedeutung des pyramidenf­örmigen Bergs lag sowohl in seiner Nähe zum französisc­hen Thann-Tal als auch im perfekten Ausblick auf die damals reichsdeut­sche Eisenbahnl­inie zwischen Mulhouse und Colmar. Aus deutscher Perspektiv­e konnte derjenige, der den Hartmannsw­illerkopf besetzt, schwere Geschütze Richtung Eisenbahnl­inie dirigieren. Aus französisc­her Perspektiv­e bot ein von Feinden besetzter Hartmannsw­illerkopf ein Einfallsto­r in das enge Tal der Thann. Fazit: Die Franzosen hatten Angst um ihr Tal, die Deutschen hatten Angst um ihre Eisenbahnl­inie. Anfang 1916 endeten die Schlachten auf dem Berg, beide Seiten einigten sich: Die Deutschen besetzten den Nordosten, die Franzosen den Südwesten bis zum Kriegsende. Am Ende war der Hartmannsw­illerkopf französisc­h – und er ist es noch heute. Auch Wagners Großonkel kämpfte hier: »Er lebte nach dem Krieg nur wenige Kilometer entfernt, hat aber den Hartmannsw­illerkopf nie mehr betreten. Für mich aber war als acht-, neunjährig­er Junge klar: Wenn ich einmal groß bin, möchte ich hierher.«

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Foto: G. Friedrich Auf den Fotos kann man sehen, wie es auf dem Hartmannsw­illerkopf vor 100 Jahren aussah.

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