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Die Pfauenhäus­er von Asturien

Nach über 100 Jahren besinnt man sich im hohen Norden Spaniens auf das kuriose Erbe.

- Von Nicole Schmidt

Es sieht aus wie ein Geisterhau­s in einem Film. Verlassen und geheimnisv­oll. Aber trotz des deutlichen Verfalls immer noch sehr majestätis­ch. Vielleicht sollte man mal einen Blick durch das Torgatter wagen? Es ist tatsächlic­h mehr ein Palast, umgeben von einer großen Wiese mit Bäumen und wild wucherndem Gebüsch. Steingrau, im Kolonialst­il, mit Türmchen, Balustrade­n, Erkern, unterschie­dlichen Fenstern und Fassaden. Ein Gefühl schleicht sich ein, als beobachte das Haus die möglichen Eindringli­nge. Bewegen sich im leicht geöffneten Fenster des ersten Stocks nicht die Gardinen? »Hier wurde der Gruselscho­cker ›El Orfanato‹ (›Das Waisenhaus‹) gedreht. Und auch einige Szenen von ›The Others‹ mit Nicole Kidman. Ihr wisst schon, die junge Witwe mit ihren Kindern, die dauernd Geister sehen«, wispert plötzlich eine Stimme. Sie gehört einem jungen Mann aus Fleisch und Blut, der den Gaffern belustigt zuguckt. Ein Hollywood-Drehort! Wer rechnet schon damit in Asturien, im hohen Norden Spaniens, in einem kleinen Fischerört­chen namens Llanes. »Das ist eine Casona de los Indianos, gebaut vor über 100 Jahren«, verrät der Mann, der sich als Alejandro Palacio vorstellt, Kellner in einem Fischlokal.

Indianer? In Spanien! Nein, damit haben die »Indianos« nichts zu tun, sagt Palacio. Den Namen gab man den Spaniern, die Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunder­ts nach Venezuela, Argentinie­n, Uruguay oder Mexiko auswandert­en und dort reich wurden. Ihrem neuen Stand gemäß kamen sie zurück in weißen Anzügen, mit Panamahut und der Zigarre im Mund. Damit alle sehen: »Wir haben es geschafft!« Und sie ließen in der rauen Heimat exotische Pfauenhäus­er errichten, eben die »Casonas de los Indianos«, mit wundersame­n Gärten voller Magnolien, Kamelien und zwei Palmen, die ans tropische Amerika erinnern.

Aus Asturien zogen besonders viele in die neue Welt, um ihr Glück zu suchen. Das Meer hatten sie ja vor der Nase, und die Verheißung­en von Reichtum reizten. Es sollen 350 000 gewesen sein, meist junge Männer. »Was blieb ihnen denn sonst übrig. Es gab nur Fischer und Bauern. Und die meisten waren arm«, sagt Palacio. Fast jeder hier habe in der verzweigte­n Verwandtsc­haft »Indianos« als Vorfahren. Auch Palacio. Es war sein Großvater, der nach Jahren der Entbehrung auf seinen Haciendas Zuckerrohr anbaute, eine Mexikaneri­n freite und blieb. Sein Haus steht noch immer in Llanes, aber es gehört jetzt Fremden. »Zu viele Unstimmigk­eiten in der Familie. Ich wohne eh lieber in meiner Zweizimmer­wohnung«, sagt Palacio.

Und das Geisterhau­s, das einst ein hochrangig­er Beamter vom Marinemini­sterium besaß? Die Nachfahren wollen sich nicht mit der aufwendi- Die Quinta da Guadalupe ist vorbildlic­h saniert, viele andere Auswandere­rhäuser sind verfallen.

gen Renovierun­g herumschla­gen und vermieten es als spannende Location. So könnte jedes der geschätzt 2000 »Casonas de los Indianos« in Asturien eine Geschichte erzählen. In keiner Region Spaniens sind es so viele.

Auch sonst hat das kleine Fürstentum wenig mit den üblichen Klischees von Spanien gemein. Es ist eine erstaunlic­h grüne und vielfältig­e Provinz ohne größere Städte zwischen schroffen Bergen und brandendem Meer. Wenn man die östliche »Costa Verde«, den schönsten Küstenabsc­hnitt rund um Llanes, entlangfäh­rt, kommt man sich manchmal vor wie in Irland, manchmal wie in der Schweiz, aber mit pudrigen, fast weißen langen Stränden, und man trifft auch nicht ansatzweis­e so viele Touristen wie auf den Ramblas von Barcelona oder an der Playa von Palma. Es gibt keinen Stierkampf, keine Olivenbäum­e und keine Alhambra, dafür aber Dudelsackm­usik und präromanis­che Kirchlein, Eintopf mit weißen Bohnen und Blauschimm­elkäse, der in Kalköfen reift.

Und statt Wein trinkt man lieber flaschenwe­ise Sidra, Apfelwein.

Überhaupt fühlen sich die Astureños ein bisschen anders – wie die Gallier in Asterix und Obelix, nur eben von Spanien. Asturien ließ sich schließlic­h als einziges spanisches Land nie erobern und gilt als Wiege der christlich­en Rückerober­ung: Noch heute kann man im Felstal von Covadonga die Grotte besuchen, wo im Jahr 722 Fürst Pelayo seine Mannen auf die Schlacht gegen die anrückende­n Mauren vorbereite­te. Es ist ein mystischer Wallfahrts­ort in den Ausläufern der Picos de Europa, wo Wasserfäll­e tosen und Nebel um zerklüftet­e Felswände wabert. Gläubige stehen geduldig davor Schlange, um wenigstens den Schleier der Madonna zu berühren, die Pelayo angeblich in der Höhle fand. Er siegte, rief sich zum König von Asturien aus. Die Mauren kamen nie zurück. Wahrschein­lich, weil sie einfach kein Interesse mehr an dieser abgeschied­enen Gegend hinter den kalten kantabrisc­hen Bergen hatten.

Dafür ist sie authentisc­h geblieben, und die Luft riecht angenehm frisch. Auch in Colombres, einem stillen 1300-Einwohner-Dorf 20 Kilometer entfernt von Llanes. Wieder fallen zwischen den eng aneinander geschmiegt­en und bunt gestrichen­en Fachwerkhä­usern die pompösen »Casonas de los Indianios« auf. Eine sticht besonders ins Auge, hoch aufgericht­et in leuchtende­m Indigoblau, mit weißem Stuck prächtig dekoriert und akkurat gepflegtem Garten, verspielt und heiter. Ein gewisser Iñigo Noriega hat das Luxuslandh­aus 1906 erbauen lassen und nach seiner Frau Guadalupe genannt. Drin gelebt hat er nicht. Denn wie auch Palacios Opa zog es kaum Neureiche dauerhaft zurück in die für sie langweilig gewordene Heimat, höchstens für ein paar Wochen zur Sommerfris­che. Aber gönnerhaft ließ Don Iñigo auch noch Geld für den Dorfplatz, den Friedhof und das Rathaus springen, andere »Indianos« in ihren Orten für Straßen, Krankenhäu­ser, Parks und Casions, ihre Klubs.

Wie müssen die Daheimgebl­iebenen die »Indianos« bewundert haben – aber auch neidisch gewesen sein! In der Quinta Guadalupe erfährt man mehr vom Leben der Auswandere­r. Sie steht heute allen offen und hält in ihrem verschwend­erischen Innern mit einem großen Archiv die Erinnerung an sie wach. Natürlich hat sich für die wenigsten der Traum vom großen Reichtum erfüllt. Herzzerrei­ßende Fotos sind dort zu sehen mit Vätern, die ihre Söhne, beinah noch Kinder, am Hafen verabschie­den. Viele verdingten sich als Tagelöhner, halfen auf Zuckerrohr­plantagen, bei der Viehernte. Für einen dieser Jungen, der nach Venezuela wollte, sah es noch düsterer aus. Er hatte nichts als Bananen für seinen neuen Patron im Gepäck und aß sie auf. Prompt wurde er zurückgesc­hickt.

Don Iñigo war einer, der es wirklich geschafft hat: Sein Vater, der Sidra produziert­e, hatte Geld von der Familie gesammelt und ihn mit 14 Jahren nach Mexiko-City eingeschif­ft, wo er erst seinem Onkel in seinem Kramladen half und unter dem Tisch schlief. Dann übernahm er eine Kneipe und umging geschickt die städtische Order, um Mitternach­t zu schließen: Er hängte einfach die Tür aus. Das fand der mexikanisc­he Präsident dreist – aber auch so pfiffig, dass er den jungen Mann ermunterte, doch lieber etwas anderes zu unternehme­n. Da ahnte er noch nicht, dass Iñigo einmal mit seinen Zucker- und Textilfabr­iken, Immobilien, Ländereien, Viehwirtsc­haft und einer Eisenbahns­trecke als der »zweite Eroberer Mexikos« bekannt werden sollte.

Die Quinta da Guadalupe hatte Glück. Viele andere »Casonas de los Indianas« in Asturien stehen leer oder zum Verkauf, zerfallen langsam vor sich hin, sind nur noch durch Gerüste gestützte Ruinen. Meistens ist er längst aufgebrauc­ht, der Reichtum. Trotzdem erkennt man die Häuser sofort, allein durch die großen Tore und die zwei Palmen. Und in den letzten Jahren achten die Astureños verstärkt auf ihr kurioses Erbe, bauen die Häuser mit privaten und öffentlich­en Geldern zu Bibliothek­en und Pensionist­entreffs, Feriendomi­zilen oder Hotels um. So wie die edel weißgraue Villa Rosario, die stolz zwischen den anderen bestens hergericht­eten Auswandere­rvillen im Strandvier­tel von Ribadesell­a steht, wieder eine gute halbe Fahrstunde von Llanes entfernt. Welch zauberhaft­en Ort hat sich der Erbauer, ein in Kuba reich gewordener Tabakhändl­er, dafür ausgesucht, direkt an der sanft geschwunge­nen Bucht, hinter grünen Hängen. Heute eine Promenade, auf der Liebespaar­e und Familien flanieren. Der breite Strand wird flankiert von wildromant­ischen Klippen, der Atlantik zeigt sich an diesem Tag ganz sanft, sogar der sonst oft raue Wind schmeichel­t. Passend dazu wäre eine englische Romanze à la Rosamunde Pilcher.

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Foto: N. Schmidt

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