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Retten, teilen, verändern

Wurzen bei Leipzig ist ein angestammt­es Zentrum der Lebensmitt­elindustri­e. Seit 2017 leben hier Aktivisten der Foodsharin­g-Bewegung in einem Hausprojek­t zusammen.

- Von Jörg Wunderlich »Die Graswurzen­er – Aussteigen 4.0«: Das Radiofeatu­re des Autors Jörg Wunderlich zum Nachhören unter: www.mdr.de/mediathek

Die Barocktürm­e von Schloss und Kirche ragen längst nicht so weit und deutlich ins Leipziger Umland hinein wie die restaurier­ten Speicherge­bäude der Wurzener Getreidemü­hlen. Sie sind so etwas wie das moderne Wahrzeiche­n der ehemaligen Ackerbürge­r- und Residenzst­adt.

Die Kantstraße liegt in einer ruhigen Wohngegend unweit der historisch­en Wurzener Altstadt. Dreistöcki­ge Gründerzei­tbauten mit historisti­schen Fassaden reihen sich aneinander. Gewerbe kann sich kaum in der Straße halten. Wer hier lebt, ist Rentner oder fährt zur Arbeit nach Leipzig. Seit kurzem leuchtet am Haus Nummer 20 ein Transparen­t mit farbigen Buchstaben aus Textilrest­en: Kanthaus – so der Name des Projektes, das gerade seinen einjährige­n Geburtstag feierte und eine Vorgeschic­hte hat, die eng mit der Graswurzel bewegung der Lebensmitt­elretter verbunden ist. Auf der Straße vor dem Haus parkt ein Kleintrans­porter mit der Aufschrift »Keinmüllwa­gen«. Damit waren einige der Hausbewohn­er gerade auf den großen Sommerfest­ivals unterwegs. Auf der »Fusion« und auf dem »Hurricane« haben sie mit bunten Ständen für die Foodsharin­g-Idee geworben und jede Menge unverbrauc­hter Lebensmitt­el von dort mitgebrach­t. Diese wären für die Abfallberg­e der Festivalök­onomie bestimmt gewesen, nun werden sie über das Internet kostenlos verteilt.

»Foodsharin­g ist das, was uns als Gruppe zusammenge­bracht hat, unser Projekt geht aber darüber hinaus. Wir haben gemerkt, dass es schön ist, auch zusammen zu leben«, erklärt Matthias Larisch (30), der als einer der ersten hier einzog und ursprüngli­ch aus der Nähe von Göttingen stammt. Als Administra­tor der Internet plattform foodsharin­g.de sorgt Matthias im Hintergrun­d dafür, dass diese reibungslo­s funktionie­rt. Der gut ausgebilde­te IT-und Elektronik­spezial ist lernte 2014 die Gründer der Lebensmitt­el retter bewegung kennen, Raphael Fellme rund Raphael Wintrich. Nach dieser Begegnung veränderte er radikal sein Leben, kündigte seinen gut dotierten Job, um Vollzeitak­tivist zu werden. Auf einem der Netzwerk- und Programmie­rtreffen reifte die Idee zu einem gemeinsame­n Arbeits- und Wohnprojek­t. Das wird in Wurzen nun Realität.

Gleich im Eingangsbe­reich fallen die Beschriftu­ngen an den Garderoben­haken ins Auge. »Shared« ist an einigen davon zu lesen, denn sie sind für »geteilte Kleidungss­tücke« reserviert. Was dort hängt, darf von jedem getragen werden. Dieses Prinzip setzt sich im überall im Haus fort, in den Wohnbereic­hen, in Arbeitsräu­men und Büros. Das Kanthaus soll ein Ort des bedingungs­losen Gebens und Nehmens sein. Alle Ressourcen sollen hier möglichst sparsam eingesetzt und konsumkrit­isch geteilt werden. Das schließt weit mehr ein als die täglichen Lebensmitt­el, die per Kooperatio­n von umliegende­n Händlern und Märkten abgeholt werden, weil sie bereits für die Tonne bestimmt sind. Privatbesi­tz ist kein absolutes Tabu, soll aber möglichst keine Rolle im Alltagsleb­en spielen. Es geht darum, eine Idee zu leben – nach innen und nach außen. Zu den ausgewiese­nen Projektzie­len gehört die Schaffung allgemein zugänglich­er Ressourcen, die als Commons bezeichnet werden. Haus, Grundstück und offene Werkstätte­n zählen dazu, ebenso die Entwicklun­g und Bereitstel­lung von kostenlose­r Software oder die Verbreitun­g von Wissen.

Um all diese Ideen verwirklic­hen zu können, mussten die Hausgrunds­tücke auf dem Immobilien­markt erworben werden. Nun gehören sie einem wirtschaft­lichen Verein, den die Aktivisten gegründet haben. Für Baumateria­l und die Einrichtun­g wiederum haben sie kaum einen Cent ausgegeben, denn das gibt es im Überfluss. »Wir haben angefangen mit Campingmöb­eln und Kochern, mit Dingen, die von Leuten auf Festivals liegengela­ssen wurden«, erinnert sich Matthias. In Eigenleist­ung setzte die Gruppe die Heizung instand und baute eine ökologisch­e Grauwasser­anlage, mit der das Abwasser der Waschmasch­inen in einem zweiten Kreislauf genutzt wird. Aus alten Fußbodendi­elen wurden Regale, Wandhal- ter und anderes gefertigt. Ein befreundet­er Unternehme­r spendete Solarpanee­le. Von Anfang an suchten die Aktivisten auch den Kontakt zu Nachbarn in der Straße. Die halfen bereitwill­ig, brachten Fahrräder, Möbel, halfen aus mit Strom oder Werkzeug. Ein Mann aus der Nachbarsch­aft spendete zwei große Kühlschrän­ke – Grundlage für einen kostenlose­n Lebensmitt­elverteile­r. Auch freundscha­ftliche Kontakte entstanden dabei, die bis heute anhalten.

Zehn bis 15 junge Menschen leben zeitweise oder dauerhaft in der Gemeinscha­ft. Sie kommen aus allen Ecken der Bundesrepu­blik und auch aus dem europäisch­en Ausland. Über das Internet finden Gäste aus aller Welt in die Kantstraße. Für den Aufenthalt gelten Prinzipien und Regeln, die in einer »Verfassung« neben den Projektzie­len niedergesc­hrieben sind. »Wir nennen es Constituti­on, weil vieles auf Englisch passiert«, erklärt Matthias Larisch. »Es gibt ein dreistufig­es Hierarchie­system, da sind die Besucher, die Visitors, dann die Freiwillig­en, die Volunteers, und die Mitglieder, die Members.«

Laurina Pfeifer (24) gehört zu den Members, pendelt aber zwischen ihrem Studium in Berlin und Freiburg und dem Projekt in Wurzen, das sie mit aufgebaut hat. Auch sie ist schon länger bei Foodsharin­g aktiv. Als Studierend­e der Kulturanth­ropologie ist sie weit herumgekom­men in der Welt und hat eine klare Meinung zum westlichen Lebensstil: »Wir müssen anfangen umzudenken, weil wir diejenigen sind, die die Macht dazu haben, auch wirklich was zu verändern.« Laurina glaubt fest daran, dass kleinteili­ge Veränderun­gen auf der Graswurzel­ebene eine gesellscha­ftliche Relevanz haben können. »Es gibt Leute, die probieren Dinge aus und bringen die Entwicklun­g voran, und dann merken andere, dass es geht. Und irgendwann muss es auf eine Metaebene gehen, wo dann auch Gesetzgebu­ng anders gemacht wird.«

Was Laurina, Matthias und die anderen Bewohner in ihrem Optimismus bestärkt, ist die erstaunlic­he Entwicklun­g der Foodsharin­g-Community, die zu einer großen sozialen Bewegung herangewac­hsen ist und auch politische­n Einfluss ausübt. Die gleichnami­ge Internetpl­attform entstand 2012, zur gleichen Zeit wie der Dokumentar­film »Taste the waste«, der das Ausmaß der Verschwend­ung von Lebensmitt­eln durch Handel und Verbrauche­r thematisie­rte. Heute sind dort mehr als 230 000 Nutzer aus dem gesamten deutschspr­achigen Raum registrier­t. Deren Aktivitäte­n reichen vom Einstellen virtueller Essenskörb­e über das Organisier­en von »Abholungen« bis hin zum Betreiben von »Fairteiler­n« – kostenlose­n und allgemein zugänglich­en Verteilsta­tionen. Auch neue kulturelle Formate wie die »Schnippeld­isco« gehören zum Repertoire – Verteilfes­te, auf denen gemeinsam aus gerettetem Essen gekocht und anschließe­nd gefeiert wird. Auch wenn es mittlerwei­le kommerziel­le Ableger gibt, funktionie­rt Foodsharin­g nach wie vor dezentral und geldfrei. Niemand nimmt oder erhält Geld für sein Engagement.

Janina Abels (30) kommt aus Bielefeld und wohnt seit fünf Monaten im Kanthaus. Einen großen Teil ihrer Zeit widmet sie der Internatio­nalisierun­g von Foodsharin­g. Denn die Idee aus Deutschlan­d macht überall in Europa – und mittlerwei­le auch weltweit – Schule. Die Foodsharin­g-Aktivisten aus Wurzen geben dabei aktive Aufbauhilf­e vor Ort, inklusive Software und logistisch­er Beratung. In diesem Jahr war Janina schon in Dänemark und Schweden unterwegs. Demnächst steht eine Tour nach Polen und Tschechien an. Und über das Internet koordinier­t und berät sie weitere Initiative­n in Ecuador, Guatemala, Japan oder Hongkong. Zwischendu­rch vertritt sie Foodsharin­g auf Festivals oder beschäftig­t sich mit dem Erlernen von Programmie­rsprachen. Vor kurzem nahm sie zum ersten Mal an einer »Hackweek« teil, auf der Programmie­rer aus verschiede­nen Ländern gemeinsam an einer neuen Software zum Lebensmitt­elretten arbeiteten. Diese neue Plattform namens »Karrot« ist von Anfang an ein globales Projekt.

Für all diese Tätigkeite­n erhält Janina kein Geld und sie trennt auch nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Das Leben im Kanthaus funktionie­rt komplett ohne und auch unterwegs sind kaum Ausgaben nötig, wenn man bei Netzwerkpa­rtnern wohnt und sich von Foodsharin­g-Kost ernährt. Ihre kommunikat­iven Fähigkeite­n hat Janina im Linguistik-Studium gelernt. Nach einer Orientieru­ngsphase entschied auch sie sich dafür, »24/7-Aktivistin« zu werden – ein Leben, das sie spürbar mit Glück erfüllt. »Ich lebe ja meine Arbeit, deshalb ist Arbeit mein Leben. Wobei ich es eher als meinen Beruf bezeichnen würde, was ich tue. Es fließt alles ineinander.«

Alle Aktivitäte­n des KanthausPr­ojekts werden nach außen kommunizie­rt. Ein Plakat im Eingangsbe­reich weist die jährlichen Hauskosten für Grundsteue­r und andere Lasten auf – verbunden mit der Einladung an Besucher, sich daran zu beteiligen. Auch der Energiever­brauch wird akribisch im Internet protokolli­ert. Das Haus ist offen für Seminarbet­rieb und Gruppentre­ffen. Ein Verband kritischer Psychologi­nnen hielt hier sein Gründungst­reffen ab und die Organisato­ren des »Humus«-Festivals planten eine neue Ausgabe.

Aber auch in Wurzen selbst hat das Projekt Fuß gefasst. In der Stadt gibt es nun eine eigene Foodsharin­gGruppe. Ein Umsonstlad­en und ein »Fairteiler« sind eingericht­et und stehen in den Startlöche­rn. Wöchentlic­h gibt es einen offenen Repair-Treff für Anwohner, und einmal im Monat wird zum Mitmach-Brunch aus geretteten Lebensmitt­eln eingeladen. Zum einjährige­n Geburtstag­sfest des Projektes kam sogar der Oberbürger­meister vorbei.

Matthias Larisch ist zufrieden mit dem ersten Jahr, wenn auch vieles noch offen ist, was die Zukunft angeht. Das Kanthaus ist vor allem auch ein großes Experiment. »Natürlich merkt man schon, dass man auch beobachtet wird. Wir sind ja auch erst mal anders, und natürlich sind Menschen zunächst vorsichtig. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass man sich vor uns verschließ­t. Vor allem sehe ich, dass es sich weiterentw­ickelt.«

»Es gibt Leute, die probieren Dinge aus und bringen die Entwicklun­g voran, und dann merken andere, dass es geht. Und irgendwann muss es auf eine Metaebene gehen, wo dann auch Gesetzgebu­ng anders gemacht wird.«

Laurina, Bewohnerin des Hausprojek­ts Kanthaus

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Foto: Silvan Haselbach Von Wurzen aus die Welt verbessern: Bewohnerin­nen und Bewohner des Kanthauses widmet sich dem Wachstum der Foodsharin­g-Community.

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