Retten, teilen, verändern
Wurzen bei Leipzig ist ein angestammtes Zentrum der Lebensmittelindustrie. Seit 2017 leben hier Aktivisten der Foodsharing-Bewegung in einem Hausprojekt zusammen.
Die Barocktürme von Schloss und Kirche ragen längst nicht so weit und deutlich ins Leipziger Umland hinein wie die restaurierten Speichergebäude der Wurzener Getreidemühlen. Sie sind so etwas wie das moderne Wahrzeichen der ehemaligen Ackerbürger- und Residenzstadt.
Die Kantstraße liegt in einer ruhigen Wohngegend unweit der historischen Wurzener Altstadt. Dreistöckige Gründerzeitbauten mit historistischen Fassaden reihen sich aneinander. Gewerbe kann sich kaum in der Straße halten. Wer hier lebt, ist Rentner oder fährt zur Arbeit nach Leipzig. Seit kurzem leuchtet am Haus Nummer 20 ein Transparent mit farbigen Buchstaben aus Textilresten: Kanthaus – so der Name des Projektes, das gerade seinen einjährigen Geburtstag feierte und eine Vorgeschichte hat, die eng mit der Graswurzel bewegung der Lebensmittelretter verbunden ist. Auf der Straße vor dem Haus parkt ein Kleintransporter mit der Aufschrift »Keinmüllwagen«. Damit waren einige der Hausbewohner gerade auf den großen Sommerfestivals unterwegs. Auf der »Fusion« und auf dem »Hurricane« haben sie mit bunten Ständen für die Foodsharing-Idee geworben und jede Menge unverbrauchter Lebensmittel von dort mitgebracht. Diese wären für die Abfallberge der Festivalökonomie bestimmt gewesen, nun werden sie über das Internet kostenlos verteilt.
»Foodsharing ist das, was uns als Gruppe zusammengebracht hat, unser Projekt geht aber darüber hinaus. Wir haben gemerkt, dass es schön ist, auch zusammen zu leben«, erklärt Matthias Larisch (30), der als einer der ersten hier einzog und ursprünglich aus der Nähe von Göttingen stammt. Als Administrator der Internet plattform foodsharing.de sorgt Matthias im Hintergrund dafür, dass diese reibungslos funktioniert. Der gut ausgebildete IT-und Elektronikspezial ist lernte 2014 die Gründer der Lebensmittel retter bewegung kennen, Raphael Fellme rund Raphael Wintrich. Nach dieser Begegnung veränderte er radikal sein Leben, kündigte seinen gut dotierten Job, um Vollzeitaktivist zu werden. Auf einem der Netzwerk- und Programmiertreffen reifte die Idee zu einem gemeinsamen Arbeits- und Wohnprojekt. Das wird in Wurzen nun Realität.
Gleich im Eingangsbereich fallen die Beschriftungen an den Garderobenhaken ins Auge. »Shared« ist an einigen davon zu lesen, denn sie sind für »geteilte Kleidungsstücke« reserviert. Was dort hängt, darf von jedem getragen werden. Dieses Prinzip setzt sich im überall im Haus fort, in den Wohnbereichen, in Arbeitsräumen und Büros. Das Kanthaus soll ein Ort des bedingungslosen Gebens und Nehmens sein. Alle Ressourcen sollen hier möglichst sparsam eingesetzt und konsumkritisch geteilt werden. Das schließt weit mehr ein als die täglichen Lebensmittel, die per Kooperation von umliegenden Händlern und Märkten abgeholt werden, weil sie bereits für die Tonne bestimmt sind. Privatbesitz ist kein absolutes Tabu, soll aber möglichst keine Rolle im Alltagsleben spielen. Es geht darum, eine Idee zu leben – nach innen und nach außen. Zu den ausgewiesenen Projektzielen gehört die Schaffung allgemein zugänglicher Ressourcen, die als Commons bezeichnet werden. Haus, Grundstück und offene Werkstätten zählen dazu, ebenso die Entwicklung und Bereitstellung von kostenloser Software oder die Verbreitung von Wissen.
Um all diese Ideen verwirklichen zu können, mussten die Hausgrundstücke auf dem Immobilienmarkt erworben werden. Nun gehören sie einem wirtschaftlichen Verein, den die Aktivisten gegründet haben. Für Baumaterial und die Einrichtung wiederum haben sie kaum einen Cent ausgegeben, denn das gibt es im Überfluss. »Wir haben angefangen mit Campingmöbeln und Kochern, mit Dingen, die von Leuten auf Festivals liegengelassen wurden«, erinnert sich Matthias. In Eigenleistung setzte die Gruppe die Heizung instand und baute eine ökologische Grauwasseranlage, mit der das Abwasser der Waschmaschinen in einem zweiten Kreislauf genutzt wird. Aus alten Fußbodendielen wurden Regale, Wandhal- ter und anderes gefertigt. Ein befreundeter Unternehmer spendete Solarpaneele. Von Anfang an suchten die Aktivisten auch den Kontakt zu Nachbarn in der Straße. Die halfen bereitwillig, brachten Fahrräder, Möbel, halfen aus mit Strom oder Werkzeug. Ein Mann aus der Nachbarschaft spendete zwei große Kühlschränke – Grundlage für einen kostenlosen Lebensmittelverteiler. Auch freundschaftliche Kontakte entstanden dabei, die bis heute anhalten.
Zehn bis 15 junge Menschen leben zeitweise oder dauerhaft in der Gemeinschaft. Sie kommen aus allen Ecken der Bundesrepublik und auch aus dem europäischen Ausland. Über das Internet finden Gäste aus aller Welt in die Kantstraße. Für den Aufenthalt gelten Prinzipien und Regeln, die in einer »Verfassung« neben den Projektzielen niedergeschrieben sind. »Wir nennen es Constitution, weil vieles auf Englisch passiert«, erklärt Matthias Larisch. »Es gibt ein dreistufiges Hierarchiesystem, da sind die Besucher, die Visitors, dann die Freiwilligen, die Volunteers, und die Mitglieder, die Members.«
Laurina Pfeifer (24) gehört zu den Members, pendelt aber zwischen ihrem Studium in Berlin und Freiburg und dem Projekt in Wurzen, das sie mit aufgebaut hat. Auch sie ist schon länger bei Foodsharing aktiv. Als Studierende der Kulturanthropologie ist sie weit herumgekommen in der Welt und hat eine klare Meinung zum westlichen Lebensstil: »Wir müssen anfangen umzudenken, weil wir diejenigen sind, die die Macht dazu haben, auch wirklich was zu verändern.« Laurina glaubt fest daran, dass kleinteilige Veränderungen auf der Graswurzelebene eine gesellschaftliche Relevanz haben können. »Es gibt Leute, die probieren Dinge aus und bringen die Entwicklung voran, und dann merken andere, dass es geht. Und irgendwann muss es auf eine Metaebene gehen, wo dann auch Gesetzgebung anders gemacht wird.«
Was Laurina, Matthias und die anderen Bewohner in ihrem Optimismus bestärkt, ist die erstaunliche Entwicklung der Foodsharing-Community, die zu einer großen sozialen Bewegung herangewachsen ist und auch politischen Einfluss ausübt. Die gleichnamige Internetplattform entstand 2012, zur gleichen Zeit wie der Dokumentarfilm »Taste the waste«, der das Ausmaß der Verschwendung von Lebensmitteln durch Handel und Verbraucher thematisierte. Heute sind dort mehr als 230 000 Nutzer aus dem gesamten deutschsprachigen Raum registriert. Deren Aktivitäten reichen vom Einstellen virtueller Essenskörbe über das Organisieren von »Abholungen« bis hin zum Betreiben von »Fairteilern« – kostenlosen und allgemein zugänglichen Verteilstationen. Auch neue kulturelle Formate wie die »Schnippeldisco« gehören zum Repertoire – Verteilfeste, auf denen gemeinsam aus gerettetem Essen gekocht und anschließend gefeiert wird. Auch wenn es mittlerweile kommerzielle Ableger gibt, funktioniert Foodsharing nach wie vor dezentral und geldfrei. Niemand nimmt oder erhält Geld für sein Engagement.
Janina Abels (30) kommt aus Bielefeld und wohnt seit fünf Monaten im Kanthaus. Einen großen Teil ihrer Zeit widmet sie der Internationalisierung von Foodsharing. Denn die Idee aus Deutschland macht überall in Europa – und mittlerweile auch weltweit – Schule. Die Foodsharing-Aktivisten aus Wurzen geben dabei aktive Aufbauhilfe vor Ort, inklusive Software und logistischer Beratung. In diesem Jahr war Janina schon in Dänemark und Schweden unterwegs. Demnächst steht eine Tour nach Polen und Tschechien an. Und über das Internet koordiniert und berät sie weitere Initiativen in Ecuador, Guatemala, Japan oder Hongkong. Zwischendurch vertritt sie Foodsharing auf Festivals oder beschäftigt sich mit dem Erlernen von Programmiersprachen. Vor kurzem nahm sie zum ersten Mal an einer »Hackweek« teil, auf der Programmierer aus verschiedenen Ländern gemeinsam an einer neuen Software zum Lebensmittelretten arbeiteten. Diese neue Plattform namens »Karrot« ist von Anfang an ein globales Projekt.
Für all diese Tätigkeiten erhält Janina kein Geld und sie trennt auch nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Das Leben im Kanthaus funktioniert komplett ohne und auch unterwegs sind kaum Ausgaben nötig, wenn man bei Netzwerkpartnern wohnt und sich von Foodsharing-Kost ernährt. Ihre kommunikativen Fähigkeiten hat Janina im Linguistik-Studium gelernt. Nach einer Orientierungsphase entschied auch sie sich dafür, »24/7-Aktivistin« zu werden – ein Leben, das sie spürbar mit Glück erfüllt. »Ich lebe ja meine Arbeit, deshalb ist Arbeit mein Leben. Wobei ich es eher als meinen Beruf bezeichnen würde, was ich tue. Es fließt alles ineinander.«
Alle Aktivitäten des KanthausProjekts werden nach außen kommuniziert. Ein Plakat im Eingangsbereich weist die jährlichen Hauskosten für Grundsteuer und andere Lasten auf – verbunden mit der Einladung an Besucher, sich daran zu beteiligen. Auch der Energieverbrauch wird akribisch im Internet protokolliert. Das Haus ist offen für Seminarbetrieb und Gruppentreffen. Ein Verband kritischer Psychologinnen hielt hier sein Gründungstreffen ab und die Organisatoren des »Humus«-Festivals planten eine neue Ausgabe.
Aber auch in Wurzen selbst hat das Projekt Fuß gefasst. In der Stadt gibt es nun eine eigene FoodsharingGruppe. Ein Umsonstladen und ein »Fairteiler« sind eingerichtet und stehen in den Startlöchern. Wöchentlich gibt es einen offenen Repair-Treff für Anwohner, und einmal im Monat wird zum Mitmach-Brunch aus geretteten Lebensmitteln eingeladen. Zum einjährigen Geburtstagsfest des Projektes kam sogar der Oberbürgermeister vorbei.
Matthias Larisch ist zufrieden mit dem ersten Jahr, wenn auch vieles noch offen ist, was die Zukunft angeht. Das Kanthaus ist vor allem auch ein großes Experiment. »Natürlich merkt man schon, dass man auch beobachtet wird. Wir sind ja auch erst mal anders, und natürlich sind Menschen zunächst vorsichtig. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass man sich vor uns verschließt. Vor allem sehe ich, dass es sich weiterentwickelt.«
»Es gibt Leute, die probieren Dinge aus und bringen die Entwicklung voran, und dann merken andere, dass es geht. Und irgendwann muss es auf eine Metaebene gehen, wo dann auch Gesetzgebung anders gemacht wird.«
Laurina, Bewohnerin des Hausprojekts Kanthaus