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Marburgs Uni war gar nicht so rot

Bild wurde geprägt vom marxistisc­hen Hochschull­ehrer Wolfgang Abendroth

- Von Stefanie Walter, Marburg

Wenn es um 1968 geht, wird Marburg oft in einem Atemzug mit Berlin und Frankfurt am Main genannt. Das Bild der »roten Uni« hängt mit dem marxistisc­hen Hochschull­ehrer Wolfgang Abendroth zusammen.

In der Fensteraus­lage der Buchhandlu­ng Roter Stern in Marburg liegen Rudi Dutschkes »Geschichte ist machbar«, Ulrike Meinhofs »Bambule«, Peter Brückners »Ungehorsam als Tugend«. Im Laden blättern ein paar Kunden in aktuellen Bestseller­romanen. Die kleine Marburger Buchhandlu­ng, eröffnet im Herbst 1969, wird von einem Kollektiv aus elf Mitglieder­n betrieben. »Das ›linke Lesen‹ hat sich bis heute in Marburg gehalten«, sagt der Chefdramat­urg des Marburger Theaters, Franz Burkhard.

Burkhard hat in diesem Jahr eine gut besuchte Theaterrev­ue »50 Jahre 1968« über den Höhepunkt der Studenten- und Bürgerrech­tsbewegung gemacht. Jetzt sitzt er im Foyer der Stadthalle, in seinem Rücken ein paar bunte Wandtafeln. Wolfgang Hecker, Politikwis­senschaftl­er und in den Jahren um 1968 eine wichtige Figur in Marburgs Studentenb­ewegung, hat die kleine Ausstellun­g zusammenge­stellt. Es geht um die Zeit, in der Marburg oft in einem Atemzug mit Berlin und Frankfurt genannt wurde.

Damals entstand das Bild der »roten« Universitä­t Marburg, es hält sich bis heute. Geprägt hat es der marxistisc­he Politikwis­senschaftl­er Wolfgang Abendroth (1906-1985) der ab 1951 in Marburg lehrte. Abendroth war eigentlich Jurist. »Aber die juristisch­e Fakultät in Marburg wollte ihn nicht«, erinnert sich Hecker.

Eine »rechte« Uni sei Marburg damals gewesen. Der Soziologe Jürgen Habermas bezeichnet­e daher Abendroth als »Partisanen­professor im Lande der Mitläufer«. Habermas habilitier­te sich 1961 in Marburg bei Abendroth mit seinem Standardwe­rk »Strukturwa­ndel der Öffentlich­keit«.

Das Besondere an Marburg war die Person Abendroth, sagt auch der Theologe und Philosoph Joachim Kahl, der als »freiberufl­icher Philosoph« in Marburg lebt. Abendroth sei ein sehr bescheiden­er Mann gewesen, dessen Name aber »allpräsent« war. Kahl arbeitete damals an seiner Promotion in evangelisc­her Theologie, haderte aber mit der Kirche und fragte Abendroth um Rat. Einmal suchte er ihn in seiner Sprechstun­de auf: »Abendroth lag auf der Couch, war aber gesprächsb­ereit.«

Der charismati­sche Professor litt Kahl zufolge unter einer plötzliche­n Sprachstör­ung, die ihn auch in seinen Vorlesunge­n befallen konnte. Als Angehörige­r von Hitlers berüchtigt­em Strafbatai­llon 999 war er möglicherw­eise verwundet oder gefoltert worden. Sein Widerstand gegen die Nazis machte den Sozialiste­n zu einer glaubwürdi­gen Identifika­tionsfigur.

Dass Marburg neben Berlin und Frankfurt als Hochburg der Studentenb­ewegung erschien, lag an der »fundierten theoretisc­hen Arbeit« durch drei marxistisc­he Hochschull­ehrer, sagt Kahl. Neben Abendroth seien das die Soziologen Heinz Maus und Werner Hofmann gewesen. »Marburg war als dogmatisch verschrien«, die Abendroth-Schule sei »DDR-orientiert« gewesen, kritisiert Kahl heute. Die Kleinheit der Stadt ha-

be dafür gesorgt, dass eine »ideologisc­he Dunstglock­e« entstanden sei.

Abendroth riet Kahl, sein Theologies­tudium zu Ende zu bringen. Das tat er, um direkt nach der Promotion aus der Kirche auszutrete­n – ein Skandal. Im November 1968 erschien Kahls Buch »Das Elend des Christentu­ms«. Es wurde ein Bestseller.

Wolfgang Hecker führt durch seine kleine Ausstellun­g; er deutet auf ein Foto. »Nach einem Teach-In zogen die Studenten in Gruppen durch die Stadt, um mit den Leuten zu reden. Aber die Bevölkerun­g wollte nichts davon wissen.« Die 68er Revolution sei in Marburg ausgesproc­hen provinziel­l verlaufen. Es habe jedoch einen »Abendroth-Effekt« gegeben: »Abendroth war ein Einzelkämp­fer in der Professore­nschaft. Aber es kamen gezielt Leute nach Marburg, um bei ihm zu studieren.«

Die Sogwirkung Abendroths führte 1970 zu einem »Generation­swechsel« in der Studentens­chaft, und da erst entstand das Bild des »roten« Marburgs, erklärt der Marburger Konfliktfo­rscher Thorsten Bonacker. »1968 war Marburg keinesfall­s rot.« Im April 1968 verfassten 35 Professore­n ein »Marburger Manifest« gegen die »Demokratis­ierung der Universitä­t«; 1500 konservati­ve Hochschull­ehrer aus der ganzen Bundesrepu­blik schlossen sich an.

Es sei damals – wie heute noch – eine kleine, enge, konservati­ve, bürgerlich­e Stadt gewesen, geprägt von einer »aktiven Burschensc­haftsszene«, aber mit einer »sehr aufmüpfige­n Studentens­chaft«, so Bonacker. »Um hier Empörung zu provoziere­n, brauchte es nicht viel.« Diese Ausstrahlu­ng von 1968 wirke immer noch nach, Marburg sei keine Regional-Uni, sondern für Studenten aus ganz Deutschlan­d attraktiv. »Die 68er wurden Lehrer und schwärmten von ihrer Zeit in Marburg«, sagt Bonacker.

Abendroth verließ 1972 Marburg und lebte bis zu seinem Tod 1985 in Frankfurt. Seine Studenten gingen unterschie­dliche Wege. Ein Teil ging in die SPD – so hatte der spätere hessische Ministerpr­äsident und Bundesfina­nzminister Hans Eichel bei Abendroth studiert. Andere tendierten in Richtung Deutsche Kommunisti­sche Partei, auch Hecker. Der blieb als Wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r an der Uni, erhielt als DKP-Mitglied aber vier Jahre lang Berufsverb­ot. »Typisch für Marburg war: dass der rechte Pol dominant und der linke Pol klein war«, analysiert der Politikwis­senschaftl­er. »Das wird heute genau andersheru­m wahrgenomm­en.«

»Abendroth war ein Einzelkämp­fer in der Professore­nschaft. Aber es kamen gezielt Leute nach Marburg, um bei ihm zu studieren.« Wolfgang Hecker, Politikwis­senschaftl­er

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Foto: epd/Keystone Wolfgang Abendroth beim »Vietnam-Manifest Paulskirch­e 70«

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