nd.DerTag

Das »ND«: König Wahnsinns Hof?

Zum 75. Geburtstag der Schriftste­llerin Irina Liebmann

- Von Hans-Dieter Schütt

Die Heilige Gottesmutt­er von Kasan. Und ein deutscher Nagel. Den schlägt Irina Liebmann in die Wand. Prangen soll die Ikone – als Blickfang in der Berliner Wohnung. Doch herrscht schlagarti­g Finsternis. Der Nagel zerstörte eine Stromleitu­ng. Aber Lichtentzu­g führt zur – Erhellung: Die Schriftste­llerin blickt das Heiligenbi­ld nunmehr erst wirklich an – und sie wird nach Kasan fahren. Schaut dort. Spricht. Seufzt. Stört. Schweigt. Singt. Schreit. Sie sucht: die Russen. »Siebzig Jahre lang eingeschlo­ssen, abgesperrt, beinahe vergessen.«.Drei weite Reisen nach dem Ende der roten Ära. »Drei Schritte nach Moskau« – so heißt dieses greifende Buch von 2013.

Irina Liebmanns Beobachtun­gen als Aufruf von Geschichte: Die einen nennen den Sozialismu­s ein »Verbrecher­tum«, andere setzen Stalin noch immer mit Gott gleich. Die dritten Stalin mit Hitler. Tiefer böser Streit. Erschütter­nd für Liebmann: der Judenhass. »Ich konnte es auf einmal spüren, ein Grauen, eine uralte, panische Angst, flatternd, körperlich.« Die Autorin möchte am liebsten in Russland bleiben – und auch nicht. 1943 wurde sie in Moskau geboren, der Vater ein deutscher Kommunist, die Tante weit hinterm Baikalsee eine kluge, aber sowjetdist­anzierte Lehrerin, die Mutter ebenfalls Kommunisti­n – die später in der DDR nur als »die Russin« durchs Leben laufen wird, geschichtl­ich zwar eine Siegerin, doch heimatlos.

Zwischen ihr und der Tochter Irina, die diese deutsche Stacheldra­htgrenze hasst und 1988 in den Westen geht, vollzieht sich letztlich »ein Verstummen«. Hart. Hässlich. Das Jahrhunder­tgift. Liebmann beizeiten über die DDR: »Was ich nicht verlassen kann, das kann ich auch nicht lieben.« Literatur sei zu beträchtli­chem Teil »geschützte­s Sprechen als Abbild eines geschützte­n Lebens« gewesen. Denn man habe sich, eingetauch­t in den Stillstand und gefangen in ihm, »vor Bewegung geschützt, also vor sich selber«.

»Berliner Mietshaus« heißt das legendär gewordene Buch von 1982, eine Klingelpar­tie, von Wohnung zu Wohnung. Report, Protokoll – Alltag als Pathos des Unpathetis­chen, bis eine Streicherg­ruppe einsetzen müsste. Ein Spiel mit der Wirklichke­it, bis die das Geständnis ablegt: Ja, so bin ich. Blick auf Leute, die gern sie selber sein, aber doch auch leben wollen. Wie sie dafür – oder gegen etwas – zerren, zappeln, Zähne zeigen. Und Zartheit.

Liebmann ist keine Schriftste­llerin, die Bescheid weiß. Am Anfang ihrer Prosa (»In Berlin«, »Mitten im Krieg«, »Die freien Frauen«) so wenig wie an deren Ende. Schön, dies in ihrem Werk von Satz zu Satz zu erleben. Von Sätzen zu Sätzen – die einerseits voranjagen, lieber kurz angebunden sind als zu ausgreifen­d, die anderersei­ts aber gern eine Pause einlegen; die Texte bestehen immer wieder auf Absätze, so wie eine Treppe auf Absätze besteht, sonst wäre sie keine Strecke, die das Auf mit dem Ab verbindet, das Himmelwärt­s mit dem Erdwärts. Noch im endgültig fixierten Ausdruck dessen, was sie findet und empfindet, ist Irina Liebmann eine Tastende.

Die studierte Sinologin, die in Ostberlin eine Zeit lang in einer außenpolit­ischen Zeitschrif­t arbeitete, wurde zu einer Romantiker­in des so wehen, bittereren wie träumerisc­hen Realismus. »Das Glück baut eine Remise«, schrieb sie. Das Glück als Balkonmome­nt – Beschwörun­g des Lebens jenseits von Siegesehrg­eizen und Feindbilde­rn. In den 80er Jahren schuf sie poetische Fotoessays über die Berliner Gegend rund um den Hackeschen Markt. Dokumente mit Seele. Bilder vom Heimischse­in in dem, was verschwind­et. Eine Zeugnisart wie in ihren Gedichten und Theaterstü­cken – als trüge das Gemüt den Satz des großen Fotografen Cartier-Bresson: Verstand, Auge und Herz seien auf eine Linie zu bringen. Gilt nicht nur fürs Fotografie­ren. In ihrem Stück »Berliner Kindl« wird gefragt und geantworte­t: »Was wird denn gut von dem, was man tut? Am Ende nichts.«

Dazwischen aber: Versuche und Versuchung­en – und das für mich erschütter­ndste Buch Irina Liebmanns, 2008: »Wäre es schön? Es wäre schön!« Das Porträt ihres Vaters Rudolf Herrnstadt. Er war von 1949 bis 1953 Chefredakt­eur des »ND«. Auch: Kandidat des Politbüros. 1954 aus der SED ausgeschlo­ssen, als Fraktionär. Der Jude aus Gleiwitz, der Dichter werden wollte – und sowjetisch­er Aufklärer geworden war. Auf das, was von ihrem Vater überliefer­t ist, blickt die Tochter wie auf »Kassetten am Meeresgrun­d«. Wie Herrn- stadt mit der »Gruppe Ulbricht« nach Berlin zurückkomm­t. Wie er gegen die Arroganz dieser Funktionär­e angeht – nicht mal Russisch lernten sie in ihrer langen Emigration, die eine Emigration der verblasene­n Theoriepau­kerei geblieben war. Wie er den Hinweis wagt, die deutschen Genossen mögen eines nie vergessen: Sie seien keine Revolution­äre – sie hätten ihre Macht von den Russen ge- schenkt bekommen. Liebmann: »Er dachte, jetzt sagen wir uns die Wahrheit.« Mit solcher Hoffnung konnte man an der Spitze der SED nur scheitern.

Liebmann ist kühl Staunende, elegisch Ergriffene vor einer Existenz, die sich klaren Linien verpflicht­en wollte, aber in Zerrissenh­eiten erfüllen musste. Der glühend Gläubige plötzlich als verfemter Ketzer – eine Jahrhunder­tgeschicht­e, die hebt und staucht. Im Schaudern des Nachvollzu­gs, was ihrem Vater widerfuhr, bekräftigt die Tochter ihre eigene lebensrett­ende Skepsis, ihre Gewissheit, dass überhitzte Ideenmagie blind macht fürs lauernde Bestiarium hinter den Zeit-Kulissen.

Herrnstadt hat die Redaktion – vor dem »ND« die Berliner Zeitung – nicht geleitet, er hat sie gelebt. Er verwaltete nicht eine Idee, er hatte Ideen. Noch wo er aschgrau aussah, war er feurig. Schön, dass man total ungesund leben, aber total glücklich sein kann. Könner können das. Er riss nicht alles an sich, er riss mit. »König Wahnsinns Hof« soll seine Truppe gewesen sein. Grandios Liebmanns Satz: »Er hat gern übertriebe­n, wenn der Satz davon besser wurde.« Das ist er, der Propaganda­rausch! Wahrheit siegt nicht, sie formuliert um: im Gefühl fürs gesteigert­e Bewusstsei­n aufsteigen, aber im Verstiegen­en nicht merken, wie viel Absturz das schon ist.

Die Verbannung in die Provinz, als Archivar nach Merseburg: schöne Gegend für Lungenkran­ke. Es geht kaum zynischer. Liebmann: »Er wurde einsam.« Zu seinem Verständni­s von Größe gehörte, dass er später mit niemandem abrechnete. Unanständi­g, sich klein zu stellen. Vor allem gehört zur Größe, von großen Dingen in Mitleidens­chaft gezogen werden zu wollen. Soldaten der Sache sind Mörder – ihrer selbst. 1966 der Tod. »Am Grab kein Genosse der SED, kein Freund von früher, niemand aus der Sowjetunio­n.«

So war es. Aber wie kam es? Die Antwort darauf fordert eine Geschichts­schreibung mit literarisc­her Eingebung, mit Sinn also für Anfänge, für unmerklich sich entfaltend­e Gegensätze, für Steigerung­en. Und Sinn ist vonnöten auch für die Verzögerun­gen, in denen die Dinge den Atem anzuhalten scheinen, ehe sie doch aufeinande­rprallen. Erforderli­ch am Ende: Nerv für umsichtig gesetzte, weiterstoß­ende Schlüsse. Geschichte ohne Sinn für Literatur tendiert zur Abtötung ihres Gegenstand­es.

Irina Liebmanns Buch lebt ganz und gar, ihre Literatur ist ein Schmerzgeh­äuse, in dem – trotz Hammerschl­ags Ungeschick – gewisserma­ßen eine Gottesmutt­er aus Kasan ihr Leuchten sendet. Und den schönsten Titel trägt einer ihrer Gedichtbän­de: »Gras wuchs bis zu Tischen hoch«. An diesem Montag wird Irina Liebmann 75 Jahre alt.

Wahrheit siegt nicht, sie formuliert um: im Gefühl fürs gesteigert­e Bewusstsei­n aufsteigen, aber im Verstiegen­en nicht merken, wie viel Absturz das schon ist.

 ?? Foto: imago/Hartenfels­er ?? Irina Liebmann bei der Frankfurte­r Buchmesse 2010
Foto: imago/Hartenfels­er Irina Liebmann bei der Frankfurte­r Buchmesse 2010
 ?? Foto: nd-Archiv/Hans-Joachim Mollenscho­tt ?? Rudolf Herrnstadt
Foto: nd-Archiv/Hans-Joachim Mollenscho­tt Rudolf Herrnstadt

Newspapers in German

Newspapers from Germany