Verbrechen und Strafe
Notizen aus Venedig
Bislang war alles schon schlimm genug in Sachen Müll. Darüber können sich die Venezianer gar nicht aufhören zu erregen. Aber jedes Jahr aufs Neues gibt es auch Hoffnungsschimmer am Müllhimmel, die sich dann regelmäßig schnell wieder verflüchtigen. Bislang war es so, dass alle ihren Mülltüten vor die Tür stellten. Die Müllmänner sammelten sie dann ein. Hört sich simpel an, war es aber keineswegs. Denn nur immer eine ganz bestimmten Sorte Müll pro Wochentag wurde mitgenommen.
Der Müllplan war zweifellos das wichtigste Dokument, das man in dieser Stadt ausgehändigt bekam. Farbig markierte er die Tage, an denen welche Art Müll auf dem Plan stand. Der Haken war, dass die Tüten bereits morgens vor acht Uhr, nicht etwa am Abend vorher vor die Tür gestellt werden mussten – wo die kreischenden Raubmöwen schon darauf warteten, sie mit ihren scharfen Schnäbeln auseinander zu hacken und dann in Minuten den Inhalt der Beutel in den Gassen und Kanälen verteilten. Also keine perfekte Lösung, zumal ich nicht gerade in Venedig zum Frühaufsteher zu werden gedenke. Wecker stellen, bloß um den Müll pünktlich rauszubringen? Da schon lieber zum Gesetzesbrecher werden, nach Mitternacht mit der Mülltüte auf die leere Gasse schleichen und sie dem Nachbarn vor die Tür stellen. Sicher ist sicher.
»Das können Sie dieses Jahr alles vergessen!«, sagt Jürgen von der Wohnungsagentur, ein ruhiger schmaler Hamburger mit langen, in den letzten zwölf Jahren, seit wir gemeinsame Wohnungsübergaben zelebrieren, schütter gewordenen Haaren. Jedes Jahr hat er ein anderes Gebrechen, im letzten rang er bedrohlich klingend nach Luft, in diesem Jahr schickte er schon vorab eine Mail, er könne beim Gepäck tragen diesmal leider nicht helfen, da er sich die Wirbelsäule angebrochen habe. Eine freundliche Information, aber Koffer hat er ohnehin nie angefasst, was ich gut verstehe, sonst würde er bei seinen vielen Kunden noch zum gut trainierten Gepäckträger.
Also, sagt Jürgen, der mich federnden Schritts an der VaporettoHaltestelle Ospedale in Empfang nimmt, mit dem Müll ist es dieses Jahr wieder ganz anders. Tüten, wann auch immer, vor die Tür stellen, ist jetzt verboten. Er hat auch schon Gäste gehabt, die sich gar nicht dafür interessierten, als er ihnen die Müllregeln erklären wollte – und nun 160 Euro Strafe zahlen mussten, weil sie dagegen verstoßen hatten. »Müllthemen interessieren mich immer brennend«, erwidere ich, weil ich das Gefühl habe, er hält auch mich für einen Müll-Regelübertreter.
Und was passiert nun mit dem Müll, wenn man ihn nicht mehr raustellen darf? Den trägt man morgens bis um acht Uhr zu einem Müllboot, das durch die Kanäle fährt und ihn in Empfang nimmt, erklärt Jürgen, natürlich nur die an diesem Tag abzuholende Sorte: Plaste und Glas mit dem Aufkleber »Vetro Plastica Lattine« versehen Montag, Mittwoch und Freitag,ständig Restmüll, zweimal die Woche Papier. Prima, wo suche ich das Boot? Gar nicht, sagt Jürgen, das waren nur allgemeine Neuregeln, die man kennen müsse – dieses Haus aber habe einen unschätzbaren Luxus, vor allem für eine bestimmte Klientel, die sonst leicht gesetzesbrecherisch wird: Mülltonnen!
Die muss man auch nicht rausbringen, die holen sich die Müllmänner. Großartig, sage ich. Ja, sagt Jürgen, wenn die Müllabfuhr zwischen sieben und acht Uhr kommt, klingelt sie zur Sicherheit überall. Irgendjemand im Haus muss ihr dann aufmachen. Gewiss, murmele ich, irgendjemand. Warum haben die denn keinen eigenen Schlüssel? (Das eigentliche Thema wäre, warum in Venedig nicht alle Häuser Mülltonnen haben.) Jürgen schaut mich an, als sei er enttäuscht von mir, dass ich solche Anfängerfragen stelle. Venezianer geben doch Schlüssel nicht irgendwem, keinem Postboten, keiner Müllabfuhr!
Es gibt neuerdings einen Hang zu wuchernden Regeln und Strafandrohungen absurdester Form in Venedig. Und dass es keinen interessiert, was geschrieben steht, dessen kann man sich auch nicht mehr sicher sein. Sogar die afrikanischen Straßenhändler, die man bislang stillschweigend duldete, schleichen wie gehetzt umher. Am Eingang zum kommunalen Strand auf dem Lido stehen dieses Jahr gleich mehrere Schilder mit Warnungen und Androhungen. Wer bei illegalen Verkäufern kauft, zahlt 50 Euro Strafe. Das ist vergleichsweise wenig und genauso unbeeindruckt laufen dort die Badetuch- und Schmuckverkäufer, deren Gesichter ich seit Jahren kenne, zwischen den Liegenden umher. Aber in den touristischen Vierteln, in denen an jeder Ecke Polizei steht, sieht man sie nicht mehr.
Am Lido gibt es auch eine neue Hundeverordnung (dreisprachig angeschlagen). Mindestens zehn Punkte sind zwingend einzuhalten. Ver- boten sind neben aggressiven auch läufige Hunde (»animale in calore«), zu beiden Daseinzuständen gibt es die passenden Zeichnungen, die amüsant wirken. Tollwutimpfungsbescheinigung, Eintragung ins örtliche Hunderegister, Gesundheitspass sind ebenso vorzuweisen wie eine maximal 1,5 Meter lange Leine, ein Sonnenschirm (!) für das Tier (von 10 bis 18 Uhr), ein Wassernapf und Tiernahrung, ein Maulkorb und Entsorgungsbeutel für Ausscheidungen. Habe ich noch was vergessen? Ach ja, ein Flohhalsband gehört auch zur Strandausrüstung. Bei Verstößen wird – laut Artikel 1164 Schifffahrtsrecht – der Hund, so wörtlich in der deutschen Übersetzung »vom Strand verjagt« und sein Halter mit einer Strafe von 100 bis 1000 Euro belegt.
Etwas übertrieben, dieser behördliche Eifer. Wenn die Bürokratie zur Aktion schreitet, wird immer nur Idiotie daraus. Neuerdings hängen auch Plakate mit Regeln für den Menschenpark Venedig in den Vaporettos. Benimmregeln für Venedig! Ich bin auch dafür, dass man den zunehmenden Sauftourismus, der von Berlin-Kreuzberg hierher überschwappt, eindämmt. Was für eine Art Globalisierung ist das, wenn es inzwischen keinen Ort mehr zu geben scheint, wo man nicht nachts hochschreckt, wenn wieder eine grölende Horde angetrunkener Jugendlicher unter dem offenen Fenster vorbeizieht? Also gegen diesen überfallsartigen nächtlichen Lärm unterscheibe ich auch Resolutionen.
Was aber sagen die ausgehängten Venedig-Benimmregeln, die nicht nach Stadt, sondern nach Museum klingen? Verboten ist es, in Venedig zu picknicken, zu schwimmen, Vögel zu füttern, Fahrrad zu fahren und sich in Badebekleidung zu zeigen. In welcher Amtsstube wurde das geboren? Von nächtlichem Lärm dagegen kein Ton! Und warum soll man in den Gardini hinter dem Arsenale nicht Fahrrad fahren? Gibt es noch eine Stadt der Welt, die Fahrrad fahren pauschal verbietet – und notorisch mit Strafen gleich wieder Höhe von hunderten Euro droht?
Spinnen die Venezianer? Es scheint so, je weniger sie werden, desto mehr.
Statt früh aufstehen lieber zum Gesetzesbrecher werden.
Gunnar Deckers in den vergangenen Jahren im »nd« erschienenen VenedigKolumnen sind in dem Band »Venedig für Skeptiker« (mit Zeichnungen von Dieter Goltzsche) versammelt, Edition Ornament im quartus-Verlag, 168 S., 16,90 €.