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Heroische Verlierer

Fluchtgrup­pen gewinnen bei der Tour de France äußerst selten die Etappe – aber schreiben die besten Geschichte­n

- Von Tom Mustroph, Carcassonn­e

Erstmals bei dieser Tour kam eine Fluchtgrup­pe auch ins Ziel. Nur das doppelte Ausreißen – die Flucht aus der Fluchtgrup­pe – machte sich nicht bezahlt.

Die Tour de France kennt Sieger, natürlich. Sie klettern nach jeder Etappe aufs Podest. Und die, die das in Paris tun dürfen, sind die Übersieger. Würde die Tour jedoch ausschließ­lich Geschichte­n von Siegern produziere­n, wäre sie nur halb so attraktiv. Heroische Verlierer prägen sie genauso. Denn in ihrem Tun spiegelt sich die Mühsal wider, die ein solches Rennen ausmacht. Ihre Anstrengun­g wird nicht gekrönt, nicht mit einem Sieg versüßt – und bleibt als Monument vergeblich­er Anstrengun­g zurück.

Eine neue Erzählung dieser Art strickte am Samstag der Belgier Jasper Stuyven. Er gehörte zu den knapp drei Dutzend Fahrern der Fluchtgrup­pe des Tages zwischen dem Alpenörtch­en Bourg-d’Oisans und dem Aeredrome in Mende. Das Peloton, von drei Alpenetapp­en schwer gezeichnet, ließ die Ausreißer gewähren. Nicht einmal Team Sky mit dem doppelten Alpenkönig Geraint Thomas hatte etwas dagegen, denn kein Klassement­fahrer hatte sich in die Fluchtgrup­pe gestohlen.

Stuyven, Teamkamera­d des Frankfurte­rs John Degenkolb, war die kollektive Flucht aber noch zu sehr ein Massenunte­rnehmen. 40 Kilometer vor dem Ziel machte er sich allein davon. Ein Mann vorn, dahinter eine Fluchtgrup­pe, dahinter in 20 Minuten Abstand das Feld – so ging es in die finalen Kilometer. Eine Minute und 30 Sekunden Vorsprung hatte der Belgier am Fuß des letzten Anstiegs. »Wir wussten, er braucht zwei Minuten, um sicher durchzukom­men. Bei 1:30 war klar, es wird ganz, ganz knapp«, schilderte Steven de Jongh, sportliche­r Leiter von Stuyven, die Spannungsm­omente vom Teamauto aus.

Stuyven kämpfte verbissen. »Aber mit meinen 80 Kilogramm gehe ich an einem solchen Anstieg ein«, beschrieb er selbst die Situation. Etwas Hoffnung hatte er freilich: »Wenn ich 200 Meter länger durchgehal­ten hätte und bis über die Kuppe gekommen wäre, hätte ich noch eine Chance gehabt.«

Wäre, hätte, wenn – der Konjunktiv ist die klassische Zeitform für Ausreißerg­eschichten. Stuyven wurde vom baskischen Kletterer Omar Fraile (Astana) und Bergkönig Julien Ala- philippe (Quick Step) eingeholt. Stuyvens Los war doppelt bitter. Denn erstmals bei dieser Tour kam eine Fluchtgrup­pe auch ins Ziel. Nur das doppelte Ausreißen – die Flucht aus der Fluchtgrup­pe – machte sich nicht bezahlt.

Was Stuyven empfunden haben muss, kann Sylvain Chavanel gut nachempfin­den. Der Franzose, Rekordhalt­er mit 18 Tourteilna­hmen, war über viele Jahre Ausreißerk­önig der Großen Schleife. Oft waren seine Anstrengun­gen vergeblich. Immerhin drei Mal konnte er sich aber über einen Etappensie­g freuen. »Das gehört zu meinen schönsten Erinnerung­en an die Tour«, sagte er »nd« am Start der 15. Etappe in Millau. Er zeigte sich durchaus gewillt, es wieder vor dem Feld zu versuchen. 420 Kilometer hat er bei dieser Tour bereits in Fluchtgrup­pen zurückgele­gt, berichtete er. Rechnet man das hoch auf seine 18 Tourteilna­hmen, kommen zwei bis drei komplette Frankreich­rundfahrte­n zusammen, die er allein oder in kleinen Gruppen vor dem Feld verbracht haben muss. Eine enorme Leistung.

»In Fluchtgrup­pen zu gehen, ist vor allem Willenssac­he. Du musst mental bereit sein für den Kampf, um überhaupt vom Feld wegzukomme­n. Danach ist es einfach schön, allein vorn zu sein. Das genieße ich. Und dann musst du natürlich Glück haben, dass deine Gruppe durchkommt«, erzählt er.

Dass so etwas bei einer Tour de France geschieht sei ungefähr so wahrschein­lich wie das Ausbrechen einer Revolution, konstatier­te der Historiker Jean-Baptiste Mignot, der eine dickleibig­e »Geschichte der Tour de France« geschriebe­n hat. Mignot bemerkte auch, dass mit dem Zunehmen der Kommunikat­ionsmedien die Chancen für eine erfolgreic­he Flucht systematis­ch gesunken seien. Präzisere Informatio­nen über Zeitabstän­de erleichter­n das Rechnen – und damit das Zurückhole­n der Gruppen.

Weil in diesem Jahr die Tourteams von neun auf acht Mann verkleiner­t waren, ließen die Sprinterte­ams aus Angst, die Gruppen nicht mehr einholen zu können, nur kleine Gruppen mit wenig Feuerkraft weg. Erst nach den Alpen änderte sich das Szenario. Auch am Sonntag war es eine große Gruppe. Unter die 29 Mann hatte Chavanel gleich drei seiner Teamgefähr­ten von Direct Energie gebracht. Mit 39 Jahren Lebensalte­r lässt der alte Hase jetzt offenbar lieber fahren.

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Foto: imago/David Stockman König der Ausreißer: Der Franzose Sylvain Chavanel ist äußerst beliebt bei seinen Landsleute­n.

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