Modellprojekt für Obdachlose
Berliner Senat verfolgt neuen Ansatz bei der Wohnungsbeschaffung
Berlin. Der rot-rot-grüne Senat will obdachund wohnungslose Menschen in der Hauptstadt ab dem Herbst unkompliziert mit eigenen Wohnungen versorgen. Nach dem sogenannten Housing-first-Konzept, was Unterbringung zuerst bedeutet, soll Betroffenen in einem Modellprojekt unbürokratisch geholfen werden. Die Wohnung selbst soll als erster Schritt »zur Führung eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens« beitragen, sagte eine Sprecherin von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) am Dienstag dem »nd«. Das Programm soll unabhängig davon, über welche Ressourcen zur eigenständigen Haushalts- und Lebensführung der oder die Betroffene verfügt, durchgeführt werden. Mit ähnlichen Konzepten wurden in anderen Metropolen gute Ergebnisse erzielt, so soll die Anzahl der Menschen, die auf der Straße leben, um 30 Prozent gesenkt worden sein. Nach der brutalen Feuerattacke auf zwei Obdachlose wird in Berlin eine Debatte über Schutzräume für die hilfebedürftigen Menschen geführt.
Zwei obdachlose Männer wurden am S-Bahnhof Schöneweide Opfer eines Mordanschlags. Tausende weitere leben in Berlin schutzlos auf der Straße. An diesem Morgen liegen vor dem S-Bahnhof Schöneweide Blumen auf einer Decke. Sie liegen dort für Lothar und Andy, die beiden obdachlosen Männer, die in der Nacht zum Montag Opfer eines Mordversuchs wurden. Ein Unbekannter hatte die 47 und 62 Jahre alten Männer mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet. Passanten verhinderten den Tod der beiden. Beide wurden mit lebensbedrohlichen Verletzungen auf die Intensivstation gebracht. Der 62-jährige Lothar ist nach Angaben der Polizei inzwischen auf die Normalstation verlegt worden und sei ansprechbar, Andy wurde wegen der Schwere der Verletzungen in ein Schutzkoma versetzt. Neue Erkenntnisse zum Täter gibt es laut Polizei nicht.
Der Fall sorgt bundesweit für Bestürzung. In Niederschöneweide kannte man Andy und Lothar, dort ist die Betroffenheit besonders groß. Lange saßen sie dort tagtäglich auf dem Boden vor dem Aufzug. Dort ist jetzt ein schwarzer Rußfleck. Der Anschlag auf die Obdachlosen zeigt Spuren nicht nur am Tatort. Am Montag fand am Bahnhof eine Mahnwache unter dem Motto »Trauer – Wut – Solidarität« für die beiden statt, an der sich rund 150 Leute beteiligten. Aufgerufen hatten Anwohnerinitiativen und das Zentrum für Demokratie TreptowKöpenick. Unter den Teilnehmer*innen waren viele andere Obdachlose. Auch die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) nahm an der Kundgebung teil und sprach von einem »bestialischen Mordversuch«. Breitenbach warnte außerdem von einer Verrohung der Gesellschaft und forderte eine Stadtgesellschaft mit einem »menschlicheren Gesicht«.
Es war nicht die erste Attacke auf Obdachlose in Berliner Bahnhöfen. Am Weihnachtsabend 2016 hatten Jugendliche die Decke eines schlafenden Mannes im U-Bahnhof Schönleinstraße angezündet. Nur durch das Eingreifen von Passanten konnte er gerettet werden. Insgesamt sind seit dem vier solcher Angriffe auf Wohnungslose registriert worden. Man kann jedoch von einer weit höheren Dunkelziffer ausgehen. Auch deshalb fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe ein bundesweites Register, mit dem Übergriffe auf Wohnungslose dokumentiert werden (siehe Interview). Bisher wer- den solche Angriffe nur unter dem Stichwort »Hasskriminalität« registriert. Dass sich diese Hassverbrechen jedoch gezielt gegen Obdachlose richtet, bleibt dabei unerwähnt. »Achtung, Respekt, Nächstenliebe und Wahrnehmung fehlen oft im Alltag«, äußert sich auch der Leiter der Bahnhofmission Zoo, Dieter Puhl auf Facebook zu dem Vorfall. »Wir sollten den menschenverachtenden Reaktionen deutlicher entgegentreten«, fordert er.
Doch trotz Zivilcourage und gesellschaftlichem Engagement bleiben Menschen, die auf der Straße leben, schutzlos. In Berlin betrifft das schätzungsweise bis zu 6000 Menschen, eine höhere Dunkelziffer ist wahrscheinlich. Es ist Sache der Politik, diesen Menschen zu einem geschützten Raum zu – einer Wohnung – zu verhelfen.
Der Senat hatte erst kürzlich ein gesamtstädtisches Programm beschlossen, mit dem Menschen in Wohnungen untergebracht werden sollen. Noch im Herbst will die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit zwei Trägern außerdem ein Modellprojekt für die Wohnraumversorgung für Obdachlose starten. Nach dem »housing first«-Konzept sollen obdach- und wohnungslose Menschen möglichst unbürokratisch zu einer eigenen Wohnung mit Mietvertrag kommen – unabhängig davon, über welche Ressourcen zur eigenständigen Haushalts- und Lebensführung der oder die Betroffene verfügt. Die Wohnung selbst als erster Schritt soll »zur Führung eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens« beitragen, heißt es von der Senatsverwaltung.