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Antisemite­n, die keine sein wollen

Volker Beck beklagt, dass der Antisemiti­smusvorwur­f mittlerwei­le schwerer wiegt als Antisemiti­smus selbst

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Mit dem Leumund des Antisemiti­smus war es nach dem verlorenen Krieg endgültig vorbei. Hitler hat dem Ansehen des Antisemiti­smus nachhaltig geschadet, weg war er damit allerdings nie. Jahrzehnte­lang wurde nach 1945 Judenfeind­schaft eher hinter vorgehalte­ner Hand kolportier­t. Heute sind die Antisemite­n wieder kecker, aber eines ist gewiss: Sie weisen den inzwischen allgemein als ehrenrühri­g angesehene­n Vorwurf des Antisemiti­smus weit von sich und »prozesshan­seln« gegen jeden an, der ihnen dabei nicht auf den Leim geht.

Unsere Geschichte hat die Gesellscha­ft gegenüber Antisemiti­smus nicht hinreichen­d sensibler und wehrhafter, aber dafür die Antisemite­n empfindlic­her gemacht, wenn man sie beim Namen nennt. Sie verbreiten weiter das »Gerücht über die Juden«, so Adornos Definition des Antisemiti­smus, wollen aber nicht Antisemite­n genannt werden.

Zu den Klassikern des modernen Antisemiti­smus gehören Verschwöru­ngstheorie­n: Hinter den Mächtigen in Staat und Wirtschaft stehen demnach die angeblich eigentlich Mächtigen. Die Rothschild­s, Rockefelle­rs, Soros’ werden als Machtinhab­er fantasiert. Sie seien die Puppenspie­ler, die Merkels, Macrons und Mays nur ihre Marionette­n. Linke wie rechte Antisemite­n raunen gern von einer jüdisch imaginiert­en kapitalist­ischen Übermacht und von einer vermeintli­chen jüdischen Weltherrsc­haft.

Auch der Sänger der »Söhne Mannheims«, Xavier Naidoo, hat es mit den Rothschild­s, den Marionette­n und den Puppenspie­lern. Immer wieder nimmt er in seinen Liedtexten Anleihen an den wahnhaften Weltbilder­n von Antisemite­n und Reichsbürg­ern. Darf man von jemand, der also antisemiti­sche Sprach- und Gesellscha­ftsbilder kolportier­t, behaupten, er sei ein Antisemit, weil sein Antisemiti­smus »strukturel­l nachweisba­r« ist?

Das Landgerich­t Regensburg meint Nein und hat einer Mitarbeite­rin der Amadeu-Antonio-Stiftung jene Äußerung verboten. Der Antisemiti­smusvorwur­f wird als schwerwieg­ender eingestuft als der Antisemiti­smus selbst, denn »vor dem Hintergrun­d der Verbrechen der Nazidiktat­ur so- wie des Holocaust (sei) die Bezeichnun­g als Antisemit in besonderer Weise geeignet …, den so Bezeichnet­en herabzuwür­digen.« Das allgemeine Verständni­s sei, dass damit auch zum Ausdruck käme, »dass derjenige die Überzeugun­gen teilt, die zur Ermordung von sechs Millionen Juden unter der nationalso­zialistisc­hen Schreckens­herrschaft geführt haben«. Ähnlich hatte dies bereits das Landgerich­t München vor drei Jahren beim Fall des rechten Journalist­en Jürgen Elsässer gegen die linke Publizisti­n Jutta Ditfurth gesehen.

Da stehen die Verhältnis­se in der Rechtsprec­hung Kopf. Die Millionen Opfer der Shoah werden für die Begründung eines Tabus der Antisemiti­smuskritik missbrauch­t. Die Rechtsprec­hung tut sich auch sonst immer wieder schwer, Antisemiti­smus als solchen zu erkennen. So hatte das Amtsgerich­t in Wuppertal im März 2017 einen Brandansch­lag auf eine Synagoge mit außenpolit­isch motivierte­r, angewandte­r Architektu­rkritik verwechsel­t.

»Der Antisemiti­smus ist eine bestimmte Wahrnehmun­g von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann«, heißt es in der von der Bundesregi­erung angenommen­en Arbeitsdef­inition. Er beginnt nicht mit der massenhaft­en Ermordung der europäisch­en Juden. Der Holocaust war der verbrecher­ische Höhepunkt der abendländi­schen Geschichte des Antisemiti­smus, nicht ihr Anfang.

Die Gerichte in München und Regensburg verkennen die 2000 Jahre währende, abendländi­sche (Un)Kulturgesc­hichte des Antisemiti­smus. Das christlich­e Abendland hat seine antijüdisc­hen Wurzeln in der Überwindun­gstheologi­e, die letztlich auf den Schultern des Apostels Paulus steht. Teil der Geschichte sind auch antisemiti­sche Einlassung­en deutscher Geistesgrö­ßen wie Luther, Kant und Hegel. Wiederkehr­ende Pogrome, Verfolgung und Diskrimini­erung waren bestimmend für das Schicksal der jüdischen Minderheit.

Man mag darüber streiten, wie viel Antisemiti­smus im Antisemite­n stecken muss, damit man ihn zu Recht als solchen bezeichnen kann, und was damit geklärt ist. Aber dieser Streit muss im Rahmen der Meinungs- und Wissenscha­ftsfreihei­t frei austragbar sein, ohne dass deutsche Zivilgeric­hte die Kritik am Antisemiti­smus mit einem Zwangsgeld bedrohen.

 ?? Foto: dpa/Jörg Carstensen ?? Volker Beck lehrt am Centrum für religionsw­issenschaf­tliche Studien (CERES) der Ruhruniver­sität Bochum und war von 1994 bis 2017 Bundestags­abgeordnet­er für die Grünen.
Foto: dpa/Jörg Carstensen Volker Beck lehrt am Centrum für religionsw­issenschaf­tliche Studien (CERES) der Ruhruniver­sität Bochum und war von 1994 bis 2017 Bundestags­abgeordnet­er für die Grünen.

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