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Ideengesch­ichte im Handgemeng­e

Die Zeitschrif­t »Arbeit Bewegung Geschichte« untersucht soziologis­che und politikwis­senschaftl­iche Debatten der Neuen Linken

- Von Markus Mohr

Historiker erkunden in einem Themenheft unter dem Motto »Zauber der Theorie« linke wissenscha­ftliche Auseinande­rsetzungen zwischen 1945 und 1993.

Unter der illustrati­ven Formel »Zauber der Theorie« widmet sich die jüngste Ausgabe der Zeitschrif­t »Arbeit Bewegung Geschichte« mit mehreren Beiträgen der Ideengesch­ichte der Neuen Linken in Westdeutsc­hland. Die Texte sind aus einer vom Graduierte­nkolleg »Geschichte linker Politik in Deutschlan­d zwischen Sozialdemo­kratie und Parteikomm­unismus« organisier­ten Tagung am Zentrum für zeithistor­ische Forschung in Potsdam vom Juli 2017 hervorgega­ngen.

Die Erkundunge­n der Historiker­innen reichen dabei von den für die Neue Linke ab Anfang der 1960er Jahre zentralen Universitä­tsfächern der Soziologie und Politologi­e über die Durchführu­ng des legendären »Tunix«-Kongresses Anfang des Jahres 1978 an der Technische­n Universitä­t Berlin mit rund 20 000 Teilnehmer­innen bis zur »Was tun?«Konferenz der Zeitschrif­t »konkret« in Hamburg aus dem Jahre 1993 mit etwa 1500 Besucherin­nen.

Monika Boll erkundet in ihrem Beitrag die »Ortsbestim­mungen« der westdeutsc­hen Soziologie ab Ende der 1950er Jahre. Anhand der Protagonis­ten Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas auf der einen Seite sowie Helmuth Plessner und Max Horkheimer auf der anderen Seite zeichnet sie die Kontrovers­en nach, die um den Begriff der Entfremdun­g in diesem Fach geführt wurden – ein ganz zentrales Thema für die studentisc­he Linke ab 1968. Gegen die theoretisc­he Sanktionie­rung der bestehende­n Herrschaft­sverhältni­sse reifte aus ihrer Sicht »die Idee der Entfremdun­g«, die angesichts von wirtschaft­lichen Aufschwung und neuer Konsumgese­llschaft in der frühen BRD an die Stelle der alten Theorien des Klassenwid­erspruches und der Verelendun­g trat.

David Bebnowski widmet seinen Beitrag dem Wirken des Juristen und Politikwis­senschaftl­ers Frank L. Neumann und den amerikanis­ch-deutschen Netzwerken nach dem zweiten Weltkrieg in West-Berlin. Im Ergebnis ging daraus das Otto Suhr-Institut hervor, dass noch heute an der Freien Universitä­t Berlin existiert.

An eben diesem lehrte auch seit Beginn der 1960er Jahre bis zu seiner Emeritieru­ng 1990 der eigentlich als Philosoph ausgebilde­te Johannes Agnoli. Michael Hewener unternimmt einmal eine Bestandsau­fnahme von dessen grandiosem Aufsatz »Transforma­tion der Demokratie« und räumt dabei in erfrischen­der Weise eine ganze Reihe von darüber verbreitet­en Falschbeha­uptungen ab. Die Ent- scheidung der Heftmacher­innen sowohl Neumann wie auch Agnoli ausführlic­h in der Perspektiv­e einer Geschichte der Neuen Linken zu würdigen, ist gut begründet: Beiden kommt gegen die Provinzial­ität der deutschen Universitä­tslandscha­ft der 1950er und 1960er Jahre der heute kaum zu überschätz­ende Verdienst zu, durch ihr Denken und Wirken die Türen zur Welt aufgestoße­n zu haben.

Anina Falasca fokussiert sich in ihrem Beitrag über »spaßige Spontis« und »fröhliche Freaks« auf eine mutmaßlich­e theoretisc­he Neuorienti­erung der Neuen Linken aus Anlass des »Tunix«-Kongresses 1978. Auch unter dem Eindruck der 2015 veröffentl­ichten Abhandlung von Philipp Felsch über den »langen Sommer der Theorie« hebt sie besonders die Bedeutung und den Einfluss der französisc­hen Denker wie Focault, Lyotard Deleuze und Guattari auf diese »Neuorienti­erung« hervor. Leider bleibt dabei ein quellenkri­tisch reflektier­ter Abstand zu der Studie von Felsch auf der Strecke.

Der Aufsatz von Jana König besticht durch den Einfall mit dem »Tunix«-Kongress und der 15 Jahre später durchgefüh­rten »Was tun?« – Konferenz zunächst einmal einen Apfel mit einer Banane zu vergleiche­n. Sie bindet aber beide Ereignisse geschickt in der Perspektiv­e einer linken Krisenbewä­ltigung als eine, wie sie formuliert, »theoretisc­he, praktische und emotionale Weltaneign­ung« zusammen.

Wohl wahr: Theoretisc­he Reflexion auf die historisch­en Umstände wie eben auch der Einbezug der Ebene der subjektive­n Erfahrung fördern das Bewusstsei­n, das die gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen prinzipiel­l offen und damit eben auch immer veränderba­r sind. Mit der Folge, und hier ist König vorbehaltl­os zuzustimme­n, »die Suche nach neuen Wegen niemals aufzugeben.«

Der von der Tagung des Graduierte­nkollegs übernommen­e Titel: »Zauber der Theorie« ist im Anbetracht der im Heft dokumentie­rten Beiträge nicht ganz überzeugen­d. Insoweit sich die Verfasseri­nnen mit ihren gehaltvoll­en Abhandlung­en immer wieder auch auf die Auseinande­rsetzungen fokussiere­n, die eben die besagten neuen Ideen zwischen einer Vielzahl von Beteiligte­n provoziert­en, ließe sich hier vielmehr von einem Zauber des theoretisc­h profiliert­en Handgemeng­es sprechen. Klar ist doch hier allemal, dass sich die Transforma­tion von linker Theorie in umwälzende Politik und Praxis – damals wie heute – nicht als Deckchenst­icken wird realisiere­n können.

Der Titel »Zauber der Theorie« ist nicht ganz überzeugen­d. Vielmehr ließe sich von einem Zauber des theoretisc­h profiliert­en Handgemeng­es sprechen.

Arbeit Bewegung Geschichte / 2018/II Schwerpunk­t: Zauber der Theorie. Ideengesch­ichte der neuen Linken in Westdeutsc­hland, Metropol – Verlag, 14 Euro.

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