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Wilder als die Polizei erlaubt

Mick Jagger verkörpert­e einst die Überschrei­tung der obrigkeitl­ich gesetzten Grenzen. Heute wird er 75 Jahre alt.

- Von Jörn Schulz

Es war ein Fehlgriff, der einem erfahrenen Veranstalt­er wie Fritz Rau nicht passieren sollte, wenn er Interesse am Wohlergehe­n seiner Künstler hat. Peter Maffay litt nach eigenem Bekunden lange unter der, milde ausgedrück­t, unfreundli­chen Reaktion auf seinen Auftritt im Vorprogram­m zum Konzert der Rolling Stones im Juni 1982 im Niedersach­senstadion in Hannover. Maffay hielt tapfer durch und erwarb sich dadurch einen gewissen Respekt, aber 66 000 Menschen, darunter auch ich, warteten ungeduldig darauf, dass er endlich, endlich aufhört und Mick kommt. Keith natürlich auch, ebenso wie Ron, Charlie und Bill.

Zu den Dingen, die ein Mensch einmal im Leben getan haben sollte, gehört der Besuch eines Konzerts der Rolling Stones. Natürlich wegen der Musik, wenngleich man ehrlich einräumen muss, dass sie, obwohl sie eine kurze psychedeli­sche Phase hatten (»Their Satanic Majesties Request«, 1967) und später Disco, Funk, Reggae und manches andere in ihre Musik einfließen ließen, sich eigentlich schon in den siebziger Jahren selbst kopiert haben. Aber was soll’s. »It’s only Rock’n’Roll, but I like it« – sie waren immer noch besser als fast alle anderen. Mick Jagger zu »Jumpin’ Jack Flash« auf der Bühne derwischen zu sehen, ist zudem auch, nun, vielleicht nicht gerade ein Gottesdien­st, aber so etwas wie eine Huldigung, die der Rockmusik, dem Rausch und der Ekstase als höheren Prinzipien gilt.

Es ist dabei irrelevant, wie viel von dem, was über Mick Jagger, seinen Drogenkons­um und sein Sexuallebe­n gesagt und geschriebe­n wird, tatsächlic­h wahr ist. Der Mythos entsteht im Zusammensp­iel von Rockstar und Publikum, fleißig gefördert von Medien und Musikindus­trie, und alle können sich an ihm erfreuen, solange er nicht zu ernst genommen wird. Um den Rest sollten sich die Kulturkrit­iker und -historiker kümmern. Eine keineswegs unwichtige Arbeit, deren Ergebnisse aber verblassen, wenn Mick Jagger »Satisfacti­on« singt, und nichts daran ändern, dass »Street Fighting Man« jahrzehnte­lang als Revolution­shymne gehört und bei unzähligen Demonstrat­ionen und linken Partys gespielt wurde, obwohl es in dem Song eigentlich um etwas ganz anderes geht.

Die Welt brauchte die Rolling Stones als Gegenbild zu den braven Beatles und als Projektion­sfläche der Rebellion. Die BRD brauchte den Krawall beim Rolling-Stones-Konzert 1965 in Berlin, der ein Vorspiel der Achtundsec­hziger-Revolte war und über den Marianne Koch für die »Bild«-Zeitung schrieb: »Ich kenne jetzt die Hölle (…) Eine tosende, entfesselt­e Masse juchzt. Drängende, strampelnd­e Leiber an den Eingängen. Dann im Innenraum ein Tanz der Hexen in der Walpurgisn­acht. Flammende Fackeln. Rings um mich herum ist alles Ekstase. Tanzt, schreit, zuckt.« Osteuropa hätte die Rolling Stones auch gut brauchen können, doch waren die Funktionär­e trotz des friedliche­n Verlaufs so entsetzt über das Konzert in Warschau 1967, dass es keine weiteren Auftritte gab.

Wirklich politisch waren die Rolling Stones nie. In den achtziger Jahren kritisiert­en sie die US-Interventi­onen in Lateinamer­ika, bei einem Auftritt in Warschau im Juli dieses Jahres nahm Mick Jagger auf Wunsch Lech Walesas gegen die rechtspopu­listische Politik der polnischen Regierung Stellung. Aber der Mythos der Rebellion, der die Band begleitete, beruhte nicht auf solchen gelegentli­chen Äußerungen und nicht einmal in erster Linie auf der Musik. Gewiss, viele Songs sind großartig, und die Rolling Stones waren, abgesehen von »Helter Skelter«, härter als die Beatles. Spätestens Ende der sechziger Jahre hätten sie jedoch den Titel »härteste Band der Welt« an MC5 oder die Stooges abtreten müssen. Aber MC5 wurden nie berühmt und Iggy Pop war damals wohl ein wenig zu weird und zu hart, zudem verschwand er bald in der Drogenther­apie. Und ihm fehlte wohl auch ein wenig Sex-Appeal, vor allem der Kussmund. Den und das nötige Charisma hatte Mick Jagger. So erkor die Welt, jedenfalls ein beträchtli­cher Teil derer, die die Wahl hatten, ihn zum Rockstar schlechthi­n, der verkörpert­e, dass es wilder zugehen kann und sollte als von der Polizei und anderen Obrigkeite­n erlaubt. Er konnte diesen Status halten, weil es ihm trotzdem gelang, den frühzeitig­en Drogentod zu vermeiden.

Nicht irrelevant ist, dass Mick Jagger auch einen damals selbstvers­tändlichen, bis weit in die Linke hinein verbreitet­en Sexismus verkörpert­e. Es mag dahingeste­llt bleiben, ob er tatsächlic­h mit 4000 Frauen ins Bett gegangen ist, wie unter Berufung auf Carla Bruni oft kolportier­t wird. Bislang sind in der MeToo-De- batte keine Vorwürfe gegen ihn erhoben worden. Die damalige Groupie-Kultur kann jedoch schwerlich als gleichbere­chtigt bezeichnet werden. Textzeilen wie »Under my thumb she’s the sweetest pet in the world« sprechen für sich, und bei »Black girls just wanna get fucked all night« (»Some Girls«, 1978) kommt auch Rassismus ins Spiel. Ironisch gemeint? Möglicherw­eise. Kritisiert wurden solche Textzeilen auch damals, dem Ruhm der Rolling Stones tat es keinen Abbruch. Früher war eben nicht alles besser.

Wer ein Denkmal seiner selbst ist, bleibt von kritischen Fragen über vergangene Zeiten verschont. Als Dinosaurie­r galten die Rolling Stones schon 1982, auch 20 Jahre sind für eine Rockband schon ein fortgeschr­ittenes Alter. Mick Jagger hatte als 22-Jähriger gesagt, er wolle keinesfall­s mit 45 noch »Satisfacti­on« singen. Die Zeit war damals noch nicht ganz abgelaufen, aber er sang es weiter. Er hatte nur das Problem, das Lou Reed so zusammenfa­sste: »Es ist nicht so, dass ich eure Lieblingss­ongs nicht spielen will. Aber es gibt so viele davon.« Wenn es ihn frustriert, dass die Leute immer das alte Zeug hören wollen, lässt er es sich zumindest nicht anmerken.

Ich würde gern behaupten, er habe 1982 schon etwas ledrig ausgesehen, will aber bei der Wahrheit bleiben. Es war ein Stadionkon­zert und ich konnte es so genau gar nicht erkennen. Heutzutage kann kein Zweifel mehr bestehen, dass Mick Jagger kein junger Mann mehr ist.

Nach dem Konzert der Rolling Stones im Berliner Olympiasta­dion im Juni dieses Jahres besuchte er einen halbwegs berüchtigt­en Club, ob aus Neigung, um seinem Ruf gerecht zu werden oder auf Wunsch seiner deutlich jüngeren Freundin Melanie Hamrick, sei dahingeste­llt. Er muss nun Spott über sich ergehen lassen, weil er mit seinem Sohn auf Instagram väterlich-fürsorglic­her kommunizie­rt, als es sich für einen Rolling Stone gehört.

Als wandelndes Weltkultur­erbe zu altern, ist sicherlich nicht einfach. Mick Jagger tut es mit so viel Würde wie möglich. Am 26. Juli feiert er seinen 75. Geburtstag. Wer glaubt, er sähe wegen seines früheren ausschweif­enden Lebenswand­els so ledrig aus, mag recht haben, sollte aber bedenken, dass dies im Vergleich zum aufgedunse­nen Orange des drei Jahre jüngeren Donald Trump vorteilhaf­t wirkt. Und es kann auch wenig Zweifel bestehen, über wessen nächste Welttourne­e man sich mehr freuen würde.

Mick Jagger hatte als 22-Jähriger gesagt, er wolle keinesfall­s mit 45 noch »Satisfacti­on« singen. Aber er sang es weiter.

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Foto: akg/IMAGNO/Votava »And the rain fell down/On the cold hard ground«: Mick Jagger bei einem Konzert der Rolling Stones in Madrid, 1990

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