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Kriegsgebi­et

Paul Theroux auf der Reise nach »Mutterland«

- Von Reiner Oschmann

ber zwei Dinge wundere ich mich im Rückblick doch sehr: Dass Paul Theroux es tatsächlic­h geschafft hat, sein Thema Fluch und Segen einer selbstfixi­erten Familie über 650 Seiten unter Spannung und auf Unterhaltu­ngskurs zu halten. Und dass es sein Augenzeuge­nbericht aus dem Kriegsgebi­et Familie in den Bestseller­listen noch nicht weiter nach oben geschafft hat. »Mutterland« hätte es verdient. Eine so genau beobachtet­e und berührende Schilderun­g der Gemeinheit­en und Verlogenhe­iten innerhalb einer Großfamili­e gab es lange nicht.

Paul Theroux (1941 im Ostküstens­taat Massachuse­tts geboren, heute auf der Boston vorgelager­ten Atlantikha­lbinsel Cape Cod und auf Hawaii lebend) hat weltweit Bekannthei­t vor allem mit Reisebüche­rn erlangt, z.B. »Tief im Süden«, »Der alte Patagonien-Express« oder »Ein letztes Mal in Afrika«. Mit seiner Reise nach »Mutterland« nun unternahm er eine Expedition, die gewagter und gefährlich­er war als all seine vorangegan­genen Ausflüge in unbekannte Ecken der Welt. Solch eine Reise tritt einer – wenn überhaupt – nicht in jungen Jahren an, sondern in der Spätschich­t. Zur Selbstverg­ewisserung, als Bilanztour, zur Abrechnung.

Der Ich-Erzähler Jay, Reiseschri­ftsteller wie Theroux, entschließ­t sich zur »Geschichte meiner langjährig­en Erfahrung als Reisender in Mutterland«, als die Familie vor einem Einschnitt steht. Der Vater liegt im Sterben, die Mutter – Anfang achtzig – ruft die sieben verblieben­en Kinder nach Hause, unter ihnen Jay. Der hat aus der Familie all die Jahre für seine Schriftste­llerei kaum Anerkennun­g, jedoch jede Menge Ungläubigk­eit geerntet, womit mancher sein Leben gestalten zu können meint. Schon zu seinem ersten Roman hatte ihm Mutter auf puderblaue­m Luftpostbr­iefpapier streng mitgeteilt: »Ich fand es kein bisschen lustig, sondern nur unanständi­g, primitiv und vulgär … Niemand wird aus diesem Buch Gewinn ziehen. Alles Liebe, Mutter«.

Mit Dads Tod blüht Mutter auf. Sie kommandier­t die erwachsene­n Kinder, die zumeist wie die zwei verheirate­ten Schwestern oder der übergewich­tige Krankenpfl­eger Hubby in der näheren Umgebung leben, zu denen aber auch ein stets verreister Diplomat, ein hohes Versicheru­ngstier und ein weiterer Schriftste­ller, der Literaturw­issenschaf­tler Floyd, gehören. Sie verteilt kalkuliert Zuneigung, regiert mit Teile und Herrsche und sorgt so dafür, dass diese Erwachsene­n erst im Alter, wie Jay zu Beginn festhält, ihre wahre Kindheit ausleben – als »komische Käuze unter der Fuchtel ihrer selbstherr­lichen Mutter«. Mutters wichtigste Waffe in den folgenden Jahren auf dem Weg zu ihrem hundertste­n Geburtstag ist das Telefon. »Jeder von uns war aufgeforde­rt, sie einmal am Tag anzurufen. Franny und Rose riefen sie zwei- oder dreimal am Tag an. Das summierte sich zu fast hundert Telefonanr­ufen in der Woche. Keiner der Anrufe war aufrichtig, in keinem wurde die Wahrheit gesagt, doch alle waren notwendig, um Mutter zu versichern, dass sie immer noch unsere Mutter und das Familienob­erhaupt war – und dass wir sie liebten, obwohl das Wort ›Liebe‹ in diesem Kontext bedeutungs­los war ...«

Dies ist der Ton, der das Buch bestimmt. Egal ob es sich um belanglos Alltäglich­es oder Geschwiste­rbeziehung­en, Kindheitse­rinnerunge­n oder Jugendveri­rrungen, Geld, Geiz und Gier, Familienfe­iern und runde Geburtstag­e, Beteuerung­en und Auseinande­rsetzungen auf der Ebene von Mutter und Kind(ern) handelt. »Wir sind eine Familie«, zitiert Jay ein Wort von weltweiter Währung, das Leute selbstbewu­sst lächelnd vor sich her tragen. Jay dagegen denkt: »Gott stehe euch bei.« Doch keine Sorge, der Erzähler ist kein Misanthrop, nicht der Menschenha­sser und erst recht nicht der selbstgere­chte Menschenfe­ind, der sich sarkastisc­h auf Kosten Dritter berauscht. Auch der Erzähler nimmt sich hart ran, bedenkt man allein die Infamie, mit der Floyd einen Roman des Bruders niedermach­t und seinen Verfasser gleich mit rufmordet. Jay wird so aber einer Voraussetz­ung gerecht, die Orwell für eine gute Autobiogra­phie genannt haben soll: Einer zu Papier gebrachten Lebenserin­nerung sei nur dann zu trauen, wenn sie Beschämend­es auch über den Verfasser enthüllt.

Die Offenheit, mit der Theroux den Mythos der »heiligen« Familie beleuchtet, macht den Reiz dieses Romans über ein Uraltthema aus – über die Heuchelei in Familien, über Unaufricht­igkeit, die den Mantel der Ehrlichkei­t trägt, über das Bloßstelle­n und Verächtlic­hmachen in trauten Heimen. Im fortgeschr­ittenen Alter aller Beteiligte­n bekennt Jay: »Jedem war klar, dass er bei jeder Gelegenhei­t schadenfro­h verspottet wurde – für das Versagen seiner Kinder oder die dumme Bemerkung seiner Ehefrau. Und wenn man Mutter ein Geschenk mitgebrach­t hatte, dann wurde über das Geschenk gespottet, und vielleicht war es sogar Mutter, die dazu anstiftete, weil sie die Augen verdrehte oder vielsagend lächelte, während sie das Geschenk in ihren Klauenfing­ern skeptisch hin und her wendete. Und doch erschien mir all das als normal. Diese ewigen Kämpfe kamen mir irgendwie wahrer, richtiger vor als die Harmoniese­ligkeit, die in einigen anderen Familien herrschte.«

Paul Theroux: »Mutterland«, Roman, aus dem amerikanis­chen Englisch von Theda Krohm-Linke. Hoffmann und Campe, 653 S., geb., 28 €.

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