Brüder, zur Sonne, zur Freiheit
In seinem großen Epos »November 1918 – Eine deutsche Revolution« beschreibt Alfred Döblin den Sturm auf das Berliner Polizeipräsidium. Vom Norden »des finstern, dumpfen, niedergeschlagenen Berlins« aus bewegen sich spätabends »geschlossene Züge von Männern« über die Brunnenstraße, Rosenthaler Straße und Münzstraße auf den Alexanderplatz zu:
»Man marschierte ohne Singen. Am Alexanderplatz, vor dem Warenhaus Tietz, hielt man. Man wartete ... Man spitze die Ohren: Gesang aus der Landsberger Straße. ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹. Eine Kolonne mit einer Fahne trat auf den Platz. Drüben erhob sich die rote Zwingburg, das Polizeipräsidium. Sie gingen darauf los.«
Als der Roman 1948 in Deutschland erstmals erschien, dürfte sich kaum jemand gewundert haben, dass das Lied »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« in diesem Kontext auftaucht, und auch heute wird niemand davon überrascht sein. Denn dieses Lied wird landläufig wie kaum ein anderes mit der deutschen Revolution 1918 in Verbindung gebracht.
Tatsächlich aber spielte es für die Revolutionäre damals gar keine Rolle: Sie kannten »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« noch gar nicht. Weit charakteristischer für die Novemberrevolution war, was Döblin in diesem Zusammenhang ebenfalls festgehalten hat: »Man marschierte ohne Singen.« Das Lied »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« wurde erst im Jahr 1920 geschrieben. Doch sein unmittelbarer und tiefgreifender Erfolg innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung führte dazu, dass dieses Lied – das auf eine der markantesten Melodien der Russischen Revolution von 1917 verfasst worden war – in der Erinnerung auch mit der deutschen Revolution 1918 in Verbindung gebracht wurde. Im literarischen Spiegel Alfred Döblins, der seinen vierbändigen Romanzyklus »November 1918« zwischen 1937 und 1943 im Exil schrieb, wird dies beispielhaft erkennbar.
Aus dem Buch von Eckhard John »›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Die unerhörte Geschichte eines Revolutionsliedes« (Ch. Links-Verlag, 208 S., br., mit CD, 15 €).