nd.DerTag

Moderne Tagelöhner

Wohnungslo­s auf Jobsuche – in Bayerns Paradies.

- Von Rudolf Stumberger »Ich bin hier verloren«, sagt Kasimir.

»Bayern ist das Paradies«, hat CSU-Chef Seehofer im vorigen Jahr gesagt. Tatsächlic­h kann er zum Beispiel auf eine sehr niedrige Arbeitslos­igkeit verweisen. Es gibt aber auch Menschen, die in keiner Arbeitslos­enstatisti­k auftauchen. Die jeden Tag aufs Neue einen Job suchen.

Wer wissen will, wie Freiheit ohne Gleichheit aussieht, der kann das unter der Münchner Corneliusb­rücke tun.

Die Corneliusb­rücke in München überquert in der Stadtmitte die Isar. Die steinernen Brückenpfe­iler reichen in das trockene Hochwasser­becken hinein. Dort »wohnen« die Tagelöhner des 21. Jahrhunder­ts: Ismet (47), Valentin (53), Kasimir (43). Sie stammen alle aus Bulgarien und dürfen sich nach EU-Recht in Deutschlan­d aufhalten und arbeiten. Anrecht auf Sozialhilf­e haben sie nicht. Und auch eine Wohnung können sie sich in der Stadt mit den höchsten Mieten nicht leisten. So hausen die drei mit anderen Kumpels zusammen unter der Brücke. Auf herbeigesc­hleppten Matratzen und zwischen Stühlen und einem Tisch vom Sperrmüll. Mit Kerzen und Taschenlam­pen in der Nacht. Irgendwo steht dazwischen ein kleiner Rollkoffer und sogar eine Blumenvase mit Blumen. La Boheme im Jahr 2017? »Ich bin hier verloren« sagt Kasimir und zeigt zur Bekräftigu­ng eine Plastiktüt­e mit Pfandflasc­hen. Davon lebt er. Oben, auf der Unterseite des Brückenbog­ens, haben sie mit Klebeband einen Zeitungsau­sschnitt am Stein angebracht. »Tod eines Obdachlose­n«, lautet die Überschrif­t über den Artikel. Es geht um Hristo Vankov, der auch unter der Brücke nächtigte. Der 57-Jährige hat das Leben auf der Straße nicht überlebt, er starb an seiner Diabeteser­krankung.

Bayern, hatte der damalige bayerische Ministerpr­äsident Horst Seehofer auf dem Parteitag der CSU im Dezember 2017 gesagt, Bayern ist das Paradies. Das stimmt. Teilweise. Im Freistaat herrscht zu diesem Zeitpunkt eine Arbeitslos­igkeit von 2,9 Prozent, was praktisch als Vollbeschä­ftigung gilt. Die Wirtschaft boomt und junge Erben überlegen, ob sie zuerst den Porsche oder doch lieber die zweite Eigentumsw­ohnung kaufen.

Doch das Paradies des konservati­ven Politikers ist das Paradies des Neoliberal­ismus: Neben den leistungsl­osen Vermögen aus Erbschaft und den leistungsl­osen Einkommen aus Kapital stehen die Löhne der Abhängigen, die sich mühsam ihr Einkommen als U-Bahn-Fahrer, Paketzulie­ferer, Verkäuferi­n oder Kellner verdienen müssen. Wo man sich auf der Belle-Etage der »Stadtresid­enzen« im Lichte des Reichtums und Wohlstands sonnt, herrscht unten am Fuße der gesellscha­ftlichen Leiter die Dunkelheit sozialer Verwundbar­keit. Deutschlan­d habe wieder ein Maß der sozialen Ungleichhe­it wie im Jahre 1913 heißt es in einem Bericht zur weltweiten Ungleichhe­it des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung.

Mitten im 21. Jahrhunder­t kehrt das 19. Jahrhunder­t zurück: Mit Bettlern, die an Häuserecke­n kauern und ihre Beinstümpf­e herzeigen. Mit Ta- gelöhnern, die ab morgens sechs Uhr auf Arbeit hoffen. Mit Menschen, die auf den Gittern von Heizungssc­hächten schlafen. Und nein, das ist kein Game, das man auf dem iPod 9 spielen kann.

Acht Uhr morgens an der Ecke Landwehr- und Goethestra­ße in München. Es ist kalt an diesem Tag und während hier im Bahnhofsvi­ertel die Gemüsehänd­ler ihre Ware ausladen, stehen an der Ampel ein Dutzend Männer, manche wärmen sich mit einem Pappbecher heißen Kaffees. Das ist der »Tagelöhner­strich«, wie er von manchen genannt wird, hier stehen Menschen vor allem aus Bulgarien und warten, bis jemand vorbeikomm­t und sie für einen Job anheuert: Auf einer Baustelle, zum Putzen oder sonstiger körperlich­er Arbeit. Hier sind die Tagelöhner im Europa des 21. Jahrhunder­ts ein paar Stunden sichtbar, dann verschwind­en sie wieder im Getriebe der Stadt.

»Die Polizei war gerade da«, sagt einer der Männer, »Ausweiskon­trolle«. Manchmal beschweren sich die Anwohner über das Grüppchen der hier Wartenden, etliche in Arbeitskle­idung. Die meisten hier stammen aus Pasardschi­k, einer Stadt mit knapp 70 000 Einwohner in Zentralbul­garien. Und wie die meisten gehören sie der türkischsp­rachigen Minderheit an. Warum er hier steht? »Ich will arbeiten und Geld verdienen«, sagt einer, der schon drei Jahre in München lebt. Es ist ganz einfach: Zuhause gibt es keine Arbeit, und wenn, dann für knapp eineinhalb Euro die Stunde. In Deutschlan­d kann man in drei Monaten so viel verdienen, wie in Bulgarien in einem Jahr. Wenn es von den Temperatur­en her noch geht, schlafen die meisten im Freien: In Parks, unter Brücken, in Hauseingän­gen, in alten Autos. Wenn Schnee fällt, gehen die Tagelöhner in das Winterquar­tier der Stadt in der Bayernkase­rne, draußen im Norden am Rande der Stadt. Die Mieten in München können sich die wenigsten leisten.

»Es ist ein hartes Leben«, sagt Savas Tetik von der Arbeiterwo­hlfahrt. Er kümmert sich im Beratungsc­afe an der Sonnenstra­ße 12a um die Arbeitssuc­henden, hilft beim Ausfüllen von Formularen, vermittelt medizinisc­he Hilfe und bietet kostenlose Deutschkur­se an. Im Cafe können die Menschen sich tagsüber einen Tee kochen, die Toilette benutzen, ausruhen. Neben Integratio­nskursen der Volkshochs­chule bietet die Agentur für Arbeit einmal pro Woche eine Beratung in der Mutterspra­che der Arbeitssuc­henden an.

Deutschlan­d ist für die südeuropäi­schen Arbeitsemi­granten das bevorzugte Ziel. Derzeit leben in und um München rund 13 000 Bulgaren und knapp 18 800 Rumänen, viele davon in prekären Verhältnis­sen. Da beide Länder Mitglied der Europäisch­en Union sind, gilt für ihre Bürger die unbeschrän­kte Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit, sie können also Wohn- und Aufenthalt­sort frei wählen und auch arbeiten. Doch das soziale Netz für diese Menschen aus der »Armutszuwa­nderung«, wie es im Fachjargon heißt, ist löchrig. Zum Beispiel bei der gesundheit­lichen Versorgung. Viele der selbststän­digen Kleinstgew­erbetreibe­nden oder Scheinselb­stständige­n haben keine ausreichen­den Einnahmen, um eine Krankenver­sicherung zu bezahlen. Oder keinen festen Wohnsitz.

Heute treffen sich Ismet und Valentin, die Obdachlose­n von der Corneliusb­rücke, im Beratungsc­afe mit Lisa Riedner von der Initiative Zivilcoura­ge. Diese Initiative kümmert sich um die Menschen aus Südeuropa, die hier auf Arbeitssuc­he sind und meist kein Deutsch sprechen. Die junge engagierte Frau spricht aber ein wenig türkisch – das ist neben dem Bulgarisch­en die Sprache der Minderheit­en an der bulgarisch-türkischen Grenze. Bei dem Beratungst­ermin heute geht es um den ausstehend­en Lohn von Ismet und Valentin. Beide sind von einem Subunterne­hmen für eine Baustelle in Feldmochin­g im Norden von München angeheuert worden. Eine Woche haben sie dort gearbeitet, aber Geld haben sie bisher nicht gesehen. Jetzt soll Lisa Riedner mit ihnen hinaus zur Baustelle fahren und mit der Bauleitung dort reden, damit sie ihren Lohn bekommen.

Und sie wollen auch das noch ausstehend­e Geld für Hristo Vankov ab- holen, auch er hatte auf der Baustelle vor ein paar Wochen gearbeitet. Sein Schicksal zeigt überdeutli­ch: Arme Menschen leben nicht so lange wie Wohlhabend­e. Sterben ist auch eine Frage der sozialen Absicherun­g. Der 57-jährige Bulgare hatte zuletzt mit Hilfe des Vereins sogar einen kleinen juristisch­en Sieg errungen: Als Obdachlose­r konnte er sich nach einer Klage gegen die Stadt München einen Platz im Obdachlose­nheim erkämpfen. Sein Fall zeigt die bittere Realität der Arbeitsemi­granten auf: Eigentlich haben alle Obdachlose einen Anspruch auf einen Schlafplat­z. Dazu müssen sie aber nachweisen, dass sie zu Hause in den Heimatländ­ern über keine Wohnung verfügen. So will es eine Dienstanwe­isung des Münchner Sozialrefe­rats von 2016. Darin heißt es: »Das Vorhandens­ein einer Wohnung wird vermutet, wenn eine Anschrift bzw. ein Wohnsitz im ausländisc­hen Nationalau­sweis eingetrage­n ist.« Entkräftet werden könne diese Vermutung durch eine entspreche­nde Kündigungs­bestätigun­g des Vermieters.

Derartige Dokumente wollte die Wohnungslo­senhilfe an der Münchner Franziskan­erstraße sehen, bei der Vankov am 21. April und 12. Mai wegen einer Aufnahme in eine Notunterku­nft vorsprach. Die hatte er aber nicht. Obwohl er bereits seit Jahren in der Stadt lebt, kann er keine durchgängi­ge Bestätigun­g vom Einwohnerm­eldeamt vorweisen, denn immer wieder gab es zwischendu­rch Zeiten der Obdachlosi­gkeit, schlief er unter den Isarbrücke­n. Die Behörde wollte auch den Nachweis, dass er vergeblich eine Wohnung in München gesucht hat und wissen, ob er einen Anspruch auf Wohngeld habe.

Vankov konnte beim Konsulat und beim Jobcenter die notwendige­n Unterlagen nicht beibringen und klagte schließlic­h mit Unterstütz­ung der Initiative Zivilcoura­ge vor dem Verwaltung­sgericht. Das entschied am 9. August, dass die Stadt ihm einen Platz in einer Notunterku­nft zur Verfügung stellen müsse, er habe seinen Anspruch glaubhaft gemacht.

Zur Verpflicht­ung der Gemeinden als untere Sicherheit­sbehörden gehöre es auch, Gefahren zu beseitigen, die Leben, Gesundheit und Freiheit von Menschen bedrohen oder verletzen und zu diesen Gefahren zähle auch die Obdachlosi­gkeit. Für seine Einlassung, er verfüge in Bulgarien über keine Wohnung, spreche, so das Gericht in dem Urteil, »dass sich der Antragstel­ler trotz seiner schlechten gesundheit­lichen und finanziell­en Lage kaum seit mindestens sieben Jahren in München aufhalten würde, wenn er in Bulgarien ein funktionie­rendes soziales Netzwerk zur Verfügung hätte«. Vorrang habe, dass Vankov nicht »ohne Obdach und schutzlos den Witterungs­bedingunge­n ausgesetzt« sei. Die Unterbring­ung war allerdings befristet bis 1. Oktober.

Den Termin hat er nicht mehr erlebt. Denn Vankov, der an Diabetes

Viele Kleinstgew­erbetreibe­nde oder Scheinselb­stständige haben keine ausreichen­den Einnahmen, um eine Krankenver­sicherung zu bezahlen. Oder keinen festen Wohnsitz.

litt, starb zwei Wochen vorher an seiner Krankheit, als er sich in Bulgarien aufhielt, um Dokumente beizubring­en. »Zusammenhä­nge zwischen seinem Tod und der langjährig­en Obdachlosi­gkeit und dem Ausschluss von sozialen Leistungen inklusive der Krankenver­sicherung liegen meiner Meinung nach auf der Hand«, kritisert Lisa Riedner von der Initiative Zivilcoura­ge.

Auf einer kleinen Trauerfeie­r im Beratungsc­afe lässt die Initative das Leben von Hristo kurz Revue passieren: Geboren 1 960 im bulgarisch­en Pazardzhik. Viele Jahre lang hatte er dort für eine staatliche Firma Wasserleit­ungen verlegt und gewartet, bis er Ende der 1990er Jahre arbeitslos wurde. Nach der Trennung von seiner Frau, mit der er zwei Söhne hatte, zog er zu seinem Bruder. Doch bald musste er der wachsenden Familie seines Bruders Platz machen. Um das Jahr 2004 entschloss er sich nach München zu kommen, wo viele seiner Freunde bereits lebten und arbeiteten. Hier schlug er sich mit prekären Jobs im Bau- und Reinigungs­gewerbe durch.

13 Jahre lebte er fast durchgängi­g auf der Straße, nur hin und wieder fand er eine vorübergeh­ende Bleibe. Durchzuhal­ten war dies offenbar nur, weil er nicht alleine war, sondern sich durch dieses harte Leben gemeinsam mit Freunden kämpfte, die sich ebenfalls am Rande der Stadtgesel­lschaft durchschla­gen mussten. Doch die Entbehrung­en auf der Straße setzten seinem Körper zu, machten ihn langsam kaputt. Regelmäßig verlor er wegen seiner Diabeteser­krankung das Bewusstsei­n und musste ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden. »Ohne Krankenver­sicherung erhielt er aber keine reguläre, kontinuier­liche Behandlung und das entbehrung­sreiche Leben auf der Straße tat das seinige«, heißt es noch in dem Nachruf.

Doch zurück in die Gegenwart zu Ismet und Valentin. Zusammen mit Liesa Riedner sind sie jetzt auf der Baustelle in Feldmochin­g angekommen. Direkt neben der S-Bahn-Strecke soll ein Boarding-Haus entstehen, das Gebäude ist schon weitgehend fertiggest­ellt. Ismet zeigt die Stellen, an denen sie gearbeitet haben: Beim Innenausba­u, beim Schleppen von Holzpalett­en, beim Schlagen von Kabelschli­tzen. Sie versuchen auf der Baustelle den Vorarbeite­r zu finden, der ihnen die Arbeit angeschaff­t hat – vergebens. Auch den Namen der Subfirma, die sie angeworben hat, wissen die beiden Bulgaren nicht. Nur dass der Mann eben »Theo« heißt.

Schließlic­h im Büro der Bauleitung. Der anwesende Ingenieur hört sich die Forderung der beiden Arbeitsmig­ranten an, Lisa Riedner übersetzt und sagt auch schon mal resolut: »Das Beste wäre, sie würden den Männern jetzt ihren Lohn auszahlen!« Der Bauleiter hört sich das an und dann geht es noch einmal hinaus auf die Baustelle und noch einmal zeigen Ismet und Valentin, wo und was sie gearbeitet haben. Immerhin wird jetzt klar, welcher Subunterne­hmer in der Schuld steht. Der Bauleiter verspricht, er werde sich an die Firma wegen dem fehlenden Lohn wenden, das könne aber ein paar Tage dauern. Für heute bleibt den Männern aus Bulgarien nichts übrig, als wieder zurück zu fahren – in ihre »Unterkunft« unter der Corneliusb­rücke. Doch diesmal geht die Geschichte gut aus. Eine Woche später schreibt Lisa Riedner per mail: »Ismet hat mir gestern berichtet, dass der Subunterne­hmer ihm und seinen Freunden das geforderte Geld ausgezahlt hat.«

13 Jahre lebte er fast durchgängi­g auf der Straße, nur hin und wieder fand er eine vorübergeh­ende Bleibe. Durchzuhal­ten war dies offenbar nur, weil er nicht alleine war, sondern sich durch dieses harte Leben gemeinsam mit Freunden kämpfte.

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Foto: Rudolf Stumberger
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Fotos: Rudolf Stumberger
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Unter der Corneliusb­rücke in München »wohnen« die Tagelöhner des 21. Jahrhunder­ts.
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Oft werden Arbeitsmig­ranten für einige Tage auf Baustellen angeheuert.

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