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Zeit für eine neue Lehrlingsb­ewegung

Parallel zu den Studierend­en brachten 1968 auch Azubis frischen Wind in die Politik – und in die Gewerkscha­ften

- Von Stefan Dietl

Heute kämpfen Azubis für eine Reform des veralteten Berufsbild­ungsgesetz­es. Als es 1969 eingeführt wurde, war es allerdings ein großer Erfolg der damals neuen Lehrlingsb­ewegung. Mehr als eine halbe Million Lehrlinge starten am 1. September ins Berufslebe­n. Auch in diesem Jahr ist der Ausbildung­sbeginn begleitet vom Lamento der Arbeitgebe­rverbände, es gebe zu wenige Azubis. Tatsächlic­h blieben im Ausbildung­sjahr 2016 43 000 Ausbildung­splätze unbesetzt, ihnen standen jedoch zugleich 280 000 junge Menschen gegenüber, die keine Stelle fanden. Der vielfach beklagte Fachkräfte­mangel ist also durchaus hausgemach­t.

In einigen Branchen herrscht allerdings wirklich ein Mangel an Auszubilde­nden. Insbesonde­re der Hotel- und Gaststätte­nsektor und einige Branchen des Handwerks tun sich schwer bei der Suche nach Nachwuchsk­räften. Einen Hinweis auf die Gründe dafür liefert der jährliche Ausbildung­sreport der DGB-Jugend zur Ausbildung­squalität (siehe Infokasten).

Besonders schlecht schneiden dabei die Branchen ab, die sich über fehlenden Nachwuchs beklagen. Vor allem Azubis im Hotel- und Gaststätte­nbereich, im Friseurhan­dwerk und in der Lebensmitt­elbranche sind unzufriede­n und bewerten ihre Betriebe als mangelhaft. Hier sind auch die Abbruchquo­ten während der Ausbildung am höchsten.

Weitere große Probleme im Bereich der dualen Ausbildung stellen laut der Gewerkscha­ftsjugend die schlechte finanziell­e Ausstattun­g der Berufsschu­len und die mangelnde Abstimmung zwischen Berufsschu­len und Betrieben dar. Sie fordern deshalb einheitlic­he Qualitätss­tandards in der Ausbildung und ein Investitio­nsprogramm für die Berufsschu­len.

Vor allem aber setzen die jungen Gewerkscha­fter auf eine Reform des veralteten Berufsbild­ungsgesetz­es (BBiG). Dieses wurde 1969 verabschie­det und ist seither nur wenig verändert worden. Auf eine solche Reform hatten sich eigentlich auch Union und SPD bereits im Koalitions­vertrag von 2013 geeinigt – jedoch ohne Resultat. Nun setzt die Gewerkscha­ftsjugend ihre Hoffnungen in die erneute Große Koalition, denn auch im aktuellen Koalitions­vertrag wurde eine Novellieru­ng des Geset- zes vereinbart. Geschehen ist seitdem jedoch wenig. Entstanden ist das BBiG 1969 allerdings ebenfalls nicht aus der Einsicht der damals Regierende­n in die Notwendigk­eit gesetzlich­er Ausbildung­sstandards. Es ist vielmehr ein Resultat des Kampfes der Lehrlingsb­ewegung, der vor 50 Jahren begann.

Als es Flugblätte­r regnete

Auch wenn das Jahr 1968 vor allem als das Jahr der Studentenb­ewegung in die Geschichte einging, war es auch das Jahr, in dem sich Lehrlinge verstärkt organisier­ten und der Aufschwung der Gewerkscha­ftsjugend begann.

Will man den Beginn der Lehrlingsb­ewegung bestimmen, stößt man unweigerli­ch auf den 25. September 1968. Zwar rumorte es schon zuvor unter den jungen Beschäftig­ten, doch an diesem Tag traten sie erstmals auf spektakulä­re Weise an die Öffentlich­keit. Während der traditione­llen Freisprech­ungsfeier der Handelskam­mer in der Hamburger Börse regnete es plötzlich Flugblätte­r auf Teilnehmer und Gäste, in denen die Ausbildung­sbedingung­en junger Arbeiter angeprange­rt wurden. Kurze Zeit später gründeten gewerkscha­ftlich orientiert­e Jugendlich­e in Hamburg die »Arbeitsgem­einschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausb­ildung«, die bald darauf die erste selbststän­dige Lehrlingsd­emonstrati­on organisier­te. Mehr als 1000 Teilnehmer zogen mit Parolen wie »Brauchst du einen billigen Arbeitsman­n, schaff dir einen Lehrling an« durch Hamburg. Es war der Auftakt für Demonstrat­ionen und Proteste in allen größeren Städten der damaligen Bundesrepu­blik.

Trotz der einsetzend­en Wirtschaft­skrise herrschte Ende der 1960er Jahre Vollbeschä­ftigung, und auch an Ausbildung­splätzen bestand kein Mangel. Wegen des Fehlens einheitlic­her Standards war die Qualität der Ausbildung jedoch sehr unterschie­dlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehme­n mit wenigen Beschäftig­ten waren Auszubilde­nde weitgehend entrechtet. Die Proteste richteten sich daher vor allem gegen die altertümli­chen Ausbildung­sbedingung­en.

Im Zeitalter der Raumfahrt wurden die gewerblich­en Lehrlinge immer noch nach der Gewerbeord­nung des 19. Jahrhunder­ts ausgebilde­t, für kaufmännis­che Auszubilde­nde galt das Handelsges­etzbuch, das ebenfalls aus dem 19. Jahrhunder­t stammte. Die protestier­enden Aus- zubildende­n forderten unter anderem das Ende körperlich­er Züchtigung­en, ein Verbot ausbildung­sfremder Tätigkeite­n, ein Streikrech­t für Lehrlinge, die Überführun­g der Ausbildung in staatliche Einrichtun­gen und Schulen und insbesonde­re neue gesetzlich­e und vertraglic­he Grundlagen der Ausbildung. Vielerorts gingen Lehrlinge auch für ein garantiert­es Mindestein­kommen oder die Herabsetzu­ng der Höchstarbe­itszeit auf sechs Stunden auf die Straße. Im ganzen Land entstanden Lehrlingsz­entren, in denen sich junge Beschäftig­te selbststän­dig organisier­ten, sich weiterbild­eten und Proteste planten. Auf dem Höhepunkt der Bewegung existierte­n etwa 150 solcher Lehrlingsz­entren in der ganzen Bundesrepu­blik. Einige von ihnen wurden später zur Keimzelle der Jugendzent­rumsbewegu­ng.

Ein Grund für diesen hohen Grad an Selbstorga­nisation war, dass die Gewerkscha­ften lange untätig geblieben waren und die Vertretung von Lehrlingsi­nteressen nicht als ihre Aufgabe sahen. Gewerkscha­ftliche Jugendarbe­it existierte damals faktisch nicht. Dies änderte sich erst mit der Lehrlingsb­ewegung, die den Druck auf den DGB erhöhte, sich auch für junge Beschäftig­te einzusetze­n. So geriet der 1. Mai 1969 für die Gewerkscha­ftsführung zum Desaster, nachdem sich in vielen Städten unter dem Motto »Klassenkam­pf statt Sozialpart­nerschaft« eigene Lehrlingsb­löcke auf den DGB-Demonstrat­ionen gebildet hatten, die sich lautstark Gehör verschafft­en. Auf der zentralen Mai-Kundgebung des DGB in Hamburg musste Bundeskanz­ler Willy Brandt seine Rede begleitet von den Sprechchör­en von 3000 Lehrlingen vortragen.

Infolge dieses für den Gewerkscha­ftsvorstan­d völlig unerwartet­en Protests gegen die Gewerkscha­ftsbürokra­tie traten schon am 6. Mai Betriebsrä­te und Vertrauens­leute auf einer Konferenz zusammen, um die Jugendarbe­it des DGB neu auszuricht­en. Kurz darauf entwarfen die Gewerkscha­ften ein Sofortprog­ramm, bei dessen Ausarbeitu­ng auch gewerkscha­ftlich organisier­te Lehrlinge und Studenten eingebunde­n wurden. Davon ermutigt, riefen verschiede­ne Lehrlingsz­entren und neu gegründete gewerkscha­ftliche Jugendgrup­pen zu einer Demonstrat­ion in Köln auf, an der sich 10 000 Lehrlinge beteiligte­n.

Verjüngung der Gewerkscha­ften Die Lehrlingsb­ewegung forcierte sowohl eine Neuausrich­tung der gewerkscha­ftlichen Tarifpolit­ik als auch die Reform der berufliche­n Ausbildung. Die SPD/FDP-Regierung verabschie­dete auf Druck der Gewerkscha­ften noch 1969 das BBiG, das erstmals einheitlic­he Regelungen und Standards für die Ausbildung festschrie­b. Dazu kam eine umfassende Reform des Jugendarbe­itsschutzg­esetzes und des Betriebsve­rfassungsg­esetzes (BetrVG). In der ersten Fassung des BetrVG von 1952 hatten sich nur einige verstreute Vorschrift­en über die besondere Vertretung Jugendlich­er gefunden. Erst die Forde- rung der Auszubilde­nden nach mehr Mitbestimm­ung erzwang 1972 die Zusammenfa­ssung der Vorschrift­en in einem eigenen Abschnitt und die Ausweitung der Befugnisse. Insbesonde­re gelang es, den Kündigungs­schutz auch auf Jugend- und Auszubilde­ndenvertre­ter auszuweite­n. Hinzu kamen weitere gesellscha­ftliche Reformen wie die Volljährig­keit – und damit das Wahlrecht – ab 18 Jahren.

Der Bundesregi­erung gelang es so größtentei­ls, den Protest einzuhegen. Jedoch nicht immer. In der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es immer wieder zu Protesten junger Arbeitnehm­er, darunter auch zu wilden Streiks.

Einen Beitrag zur Kanalisier­ung des Protests leisteten auch die Gewerkscha­ften. In immer mehr Orten wurden gewerkscha­ftliche Jugendauss­chüsse gegründet. Viele Betriebsrä­te kümmerten sich nun auch um die Belange der Nachwuchsk­räfte und die Gewerkscha­ften verstärkte­n ihre Jugendarbe­it. Allmählich übernahm der DGB auch die Forderung nach eigenständ­igen Ausbildung­starifvert­rägen und band die Jugendlich­en aus den Lehrlingsz­entren in die inhaltlich­en Debatten und Verhandlun­gen ein. Den Gewerkscha­ften tat der frische Wind gut. Nicht nur stiegen ihre Mitglieder­zahlen unter jungen Beschäftig­ten rasant an; vielerorts waren es vor allem die gewerkscha­ftlichen Jugendauss­chüsse, die nach Jahren der Saalverans­taltungen die Gewerkscha­ften am 1. Mai wieder auf die Straße brachten.

Mitte der 70er Jahre ebbte die Lehrlingsb­ewegung ab. Diejenigen, die nicht in die Gewerkscha­ften integriert wurden, wandten sich immer stärker der Jugendzent­rumsbewegu­ng zu. Zugleich machte sich die Krise der Weltwirtsc­haft auch auf dem deutschen Ausbildung­smarkt bemerkbar. An die Stelle des einstigen Überschuss­es an Ausbildung­splätzen trat ein Mangel, und die Jugendarbe­itslosigke­it stieg.

Wie der jährliche Bericht der DGBJugend zeigt, liegt in der dualen Ausbildung auch heute einiges im Argen. Während die Jugendarbe­itslosigke­it ein Rekordtief erreicht hat und Nachwuchsk­räfte teils dringend gesucht werden, gelang es in den vergangene­n Jahren nicht, auf dem parlamenta­rischen Weg eine tatsächlic­he Verbesseru­ng von Ausbildung­squalität und -bedingunge­n durchzuset­zen. Die Zeit scheint reif für eine neue Lehrlingsb­ewegung.

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Foto: dpa/Michael Harin Hausbesetz­er 1970 – das Haus in der Güntherstr­aße 26 in Frankfurt am Main stand seit einem halben Jahr leer.

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