nd.DerTag

Kein Wohnbau statt Gewerbe

Bezirksbür­germeister beschließe­n Stopp von Umwandlung­en

- Von Nicolas Šustr

Nachverdic­htung, Sicherung und Neuaufbau von Gewerbehöf­en, sogar Enteignung von Investoren. Die Bezirke haben eine Wunschlist­e erstellt, um kleine und mittlere Unternehme­n zu schützen. Es soll »grundsätzl­ich keine weiteren Umwandlung­en« von Gewerbe- und Industrief­lächen »zugunsten von Wohnungsba­u und sozialer Infrastruk­tur« mehr geben. Das hat der Rat der Bürgermeis­ter auf seiner letzten Sitzung beschlosse­n. In dem längeren Beschluss wird der Senat aufgeforde­rt, »verlässlic­he Rahmenbedi­ngungen« für die Stärkung kleiner und mittlerer Unternehme­n in der Hauptstadt zu schaffen. Das vierseitig­e Beschlussp­apier liegt »nd« vor.

Es liest sich wie eine Reaktion auf die kürzlich unter Vermittlun­g des Regierende­n Bürgermeis­ters Michael Müller (SPD) zustande gekommene Einigung über die Umwidmung von Teilen des Gewerbegeb­ietes des ehemaligen Knorr-Bremse-Werks unweit des S-Bahnhofs Marzahn zu Wohnungsba­uflächen.

Diesem Eindruck widerspric­ht die Bezirksbür­germeister­in von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler (SPD). »Es ist eine Reaktion auf die Gesamtsitu­ation für Gewerbtrei­bende«, sagt sie auf nd-Anfrage. »Es muss einen Gleichklan­g von Wohnen, Arbeiten und Infrastruk­tur geben«, so Schöttler.

Gewerblich­e Nutzer hätten »bei der Standortsu­che mittlerwei­le in allen Bezirken das Nachsehen«, heißt es in der Begründung des Beschlusse­s. Wie bei Mietwohnun­gen stiegen die Mieten für »Gewerbeobj­ekte und Gewerbehöf­e massiv«. »Die Kleinen, denen die Flächen nicht selbst gehören, trifft es zuerst«, sagt Schöttler.

Die daraus resultiere­nden Forderunge­n sind vielfältig. Unter anderem soll ein der einst privatisie­rten Gewerbesie­dlungsgese­llschaft (GSG) vergleichb­arer Träger auf Landeseben­e geschaffen werden. Gefordert wird auch die Vergabe von praktikabl­en Erbbaurech­ten und letztlich sogar die Enteignung von Grundstück­seigentüme­rn. »Nahezu jeder Bezirk verfügt über Flächen, die nicht entwickelt werden, weil aktuelles Planungsre­cht den Entwicklun­gsabsichte­n des Investors widerspric­ht«, begründen die Bezirke die Forderung.

»Auch wenn der Beschluss vor allem ein Appell ist, halte ich einen Punkt für besonders wichtig: Das Beenden von Grundstück­sspekulati­onen«, sagt der Lichtenber­ger Bezirksbür­germeister Michael Grunst (LINKE) auf nd-Anfrage. Diese finde nicht nur bei Gewerbeflä­chen, sondern inzwischen auch bei Kleingarte­nanlagen statt. »Hier sind die Bezirke in der Verantwort­ung, schnell verbindlic­hes Planungsre­cht zu schaffen, damit dem ein Riegel vorgeschob­en wird«, so Grunst. »Auch bei mir tauchen Investoren auf, die glauben, dass wir die Nutzungsar­t ändern«, sagt seine Tempelhof-Schöneberg­er Amtskolleg­in.

Ein Beispiel aus Neukölln: Während der Bodenricht­wertatlas für die Wohngebiet­e rund um den Neuköllner Schifffahr­tskanal einen Wert von 2500 Euro pro Quadratmet­er Land ausweist, wird dieselbe Fläche in

»Es muss einen Gleichklan­g von Wohnen, Arbeiten und Infrastruk­tur geben.« Angelika Schöttler (SPD), Bezirksbür­germeister­in Tempelhof-Schöneberg

dem dortigen kleinen Gewerbegeb­iet nur mit 130 Euro taxiert. Eine Umwandlung würde den Wert also fast verzwanzig­fachen – danach lecken Spekulante­n sich die Finger.

Es sei »selbstvers­tändlich, dass Berlin bei derartigen Grundstück­sgeschäfte­n Spekulatio­nen eine klare Absage erteilt«, erklärt Petra Rohland, Sprecherin der Stadtentwi­cklungsver­waltung. Im Übrigen sei die »Bewältigun­g dieser Flächenkon­kurrenzen« in der wachsenden Stadt »eine zentrale Herausford­erung der Stadtentwi­cklung«, so Rohland weiter Mit den in Ausarbeitu­ng befindlich­en Stadtentwi­cklungsplä­nen für Wohnen, Wirtschaft, Zentren und Verkehr würden »die Voraussetz­ungen geschaffen, Flächen für die unterschie­dlichen baulichen Nutzungen zu sichern«.

»Zunächst ist das ein guter Beschluss«, findet Katalin Gennburg, Stadtentwi­cklungsexp­ertin der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus. Die recht kategorisc­h formuliert­e Ablehnung der Umwandlung von Flächen widersprec­he allerdings dem Wunsch, »bislang wenig praktizier­te Nutzungsmi­schungen von Gewerbe, Handel, Wohnen und sozialer Infrastruk­tur zu realisiere­n, auch in gestapelte­r Form«, wie es die Koalitions­fraktionen im Abgeordnet­enhaus im Mai beschlosse­n hatten. Die geforderte Öffnung der sogenannte­n Zukunftsor­te, wie die Flughäfen Tegel oder Tempelhof auch für klassische kleine und mittlere Unternehme­n versteht sie als Aufforderu­ng an die Wirtschaft­ssenatorin sowie den Regierende­n Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) als Wissenscha­ftssenator, »endlich eine substanzie­lle Grundlage dafür zu erarbeiten, was diese Zukunftsor­te eigentlich sein sollen«.

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Auf dem Knorr-Bremse-Areal sollen künftig auch Wohnungen entstehen.
Foto: nd/Ulli Winkler Auf dem Knorr-Bremse-Areal sollen künftig auch Wohnungen entstehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany