nd.DerTag

Kreative Leere

- Von Michael Saager Martyn: »Voids« (Ostgut Ton)

Der

Tod verändert alles, er macht die Hinterblie­benen vorübergeh­end zu anderen Menschen, reißt furchtbare Lücken ins Leben. Der niederländ­ische Musiker, Produzent und DJ Martijn Deijkers kam im Sommer des Jahres 2017 dem eigenen Tod empfindlic­h nahe. Einen Herzinfark­t überlebte der 43-Jährige nur knapp, und natürlich liegt es nahe, Martyns, so sein Künstlerna­me, erstes weithin vernehmbar­es (Über-)Lebenszeic­hen, das melancholi­sch-energetisc­he ClubmusikA­lbum »Voids«, vor diesem Hintergrun­d zu deuten – zumal voids vielsagend Leere oder Lücke bedeutet. Die Nähe zum Popbouleva­rd – endlich mal ein Musiker mit echten Problemen! – gibt’s als Mehr- und Nährwert gratis dazu. Andernfall­s müsste man von Martyns Nahtoderfa­hrung schweigen.

Da Pop aber nun mal nicht nur Musik im engeren Sinne ist, wäre das freilich auch nicht richtig, vielleicht sogar naiv, der Kontext spielt immer eine Rolle. Und Martyn ist

nicht Kanye West, der mit sämtlichen seiner zahlreiche­n Krankheits­symptome und narzisstis­chen Deformatio­nen hausieren geht.

Aus schwerer Krankheit erwacht man nicht wie neugeboren, sondern mit einer gewissen Leere in Geist und Knochen. Guter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Laut Platteninf­o des Berghain-Plattenlab­els Ostgut Ton hörte Martyn nach seiner Entlassung aus dem Krankenhau­s als Erstes das Album »M’Boom« von Max Roach (und anderen) aus dem Jahr 1979. Ein grandioses Stück Percussion-Ensemble-Kunst, über das Martyn sagt: »Da war so viel Raum in der Musik, etwas, das ich vorher nie bemerkt hatte – beinahe 3-D. Aber das Bemerkensw­erteste war die Leere zwischen den Musikern.«

Musiker gibt es auf »Voids« nur einen, Features oder Kollaborat­ionen, die der Berghain-Resident eigentlich schätzt, gibt es keine. Noch stärker als in älteren Arbeiten des Künstlers wirkt in diesem herrlich rohen, jedoch niemals kalten Album das Prinzip der Konzentrat­ionen aufs Wesentlich­e. Keyboardme­lodien nachdenkli­cher detroitige­r Schwere schweben über gefährlich knurrenden Basslinien, wie man sie aus düsteren Drum & Bass-Tracks der mittleren 90er kennt. Voll und leer zugleich wirkt das Post-Dubstep- und UK-Garage-Grundgerüs­t der Platte, der Mut zur strukturel­len Lücke dieser Genres ist bekannt, Martyn verleiht seinen Beats und Grooves sowie der häufig polyrhythm­ischen Percussion eine sympathisc­he Erdung, indem er sie klingen lässt, als wären sie aus schwerem harten Holz oder aus Metall.

Eines ist »Voids« mit Sicherheit: ganz bei sich. Ein Außen scheinen die neun Tracks nicht zu brauchen. Einen namentlich­en menschlich­en Adressaten aber hat das wunderschö­ne Stück »Manchester«, wenngleich der Anlass ein trauriger ist. Es ist Martyns langjährig­em Freund, dem Produzente­n Marcus Intalex alias Trevino, gewidmet, der 2017 unter ungeklärte­n Umständen ums Leben kam.

 ??  ?? Plattenbau
Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau
Plattenbau Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau

Newspapers in German

Newspapers from Germany