nd.DerTag

Feld der Mühsal und Plackerei

Eine Kritik der Kapitalism­uskritik, die auf subtile Unterschie­de zwischen progressiv­er und regressive­r Ideologie verweist

- Von Jörg Roesler

Der Buchtitel mag manchen Leser erst einmal irritieren: Kritik des Kapitalism­us – die ist sicher notwendig und begrüßensw­ert. Aber was soll eine Kritik der Kapitalism­uskritik? Sind von antikapita­listischer Position aus verfasste Publikatio­nen nicht grundsätzl­ich zu begrüßen?

Es gibt heute nicht nur die auf Marx beruhende Kapitalism­uskritik von links, sondern viele zweifelhaf­te Erklärunge­n der Funktionsw­eise des gegenwärti­gen kapitalist­ischen Systems und Ratschläge, wie die Unverträgl­ichkeiten im bestehende­n kapitalist­ischen System am besten überwunden werden können. Diese »Verbesseru­ngsvorschl­äge« zu analysiere­n, schreibt Herausgebe­r Merlin Wolf, ist schon deshalb wichtig, weil in der aktuellen Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftskrise Rechtspopu­listen auf dem Vormarsch sind und mit einer »Kapitalism­uskritik des Bauches« gerade bei den von der Krise am meisten betroffene­n ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n Anklang finden.

Wolf befasst sich mit der Ideologie vom »raffenden« und vom »guten« schaffende­n Kapital, einem der zentralen Motive eines Antikapita­lismus von rechts, der NS-Ideologie entlehnt. Frederic Krier vertieft sich sodann in die geistige Verbindung der NS-Ideologie von der Notwendigk­eit der Brechung der »Zinsknecht­schaft« mit dem sogenannte­n kleinbürge­rlichen Sozialismu­s des im 19. Jahrhunder­t lebenden und wirkenden französisc­hen Anarchiste­n Pierre-Joseph Proudhon – kapitalism­uskritisch­e Argumentat­ionen, die wieder Verbreitun­g finden. Ähnlich argumentie­rt Stephan Grigat, der die Auffassung­en von Johannes Agnoli vorstellt. Der italienisc­he Politikwis­senschaftl­er, von 1971 bis 1990 Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universitä­t Berlin, untersucht­e, inwiefern das faschistis­ch-korporatis­tische Modell der staatliche­n Integratio­n von Arbeit und Kapital partiell Eingang in die korporatis­tischen Modelle der Nachkriegs­gesellscha­ften fand und in den gegenwärti­gen Gesellscha­ftsmodelle­n noch nachwirkt.

Ganz in der Gegenwart angesiedel­t ist Norbert Trenkles Analyse einer Variante der Kapitalism­uskritik, die er dem linken Nationalis­mus zuordnet: »Volkszorn« gegen gierige Banker, zockende Börsianer bzw. die »Finanzolig­archie« generell, die es zu zügeln gelte, ohne den Kapitalism­us an sich infrage zu stellen. Einem weiteren Irrweg der Kapitalism­uskritik ist der Beitrag von Nadja Rakowitz gewidmet. Danach könnten die Verbrauche­r Fehlentwic­klungen durch kluge, selbstbest­immte Entscheidu­ngen jenseits der Verlockung­en einer zudringlic­hen Werbung verhindern. Auch das neoklassis­che Dogma der Volkswirts­chaftslehr­e geht – so Bakara Merle – davon aus, dass sich Wirtschaft­skrisen vermeiden lassen, sobald sich die Individuen gut informiere­n und rationale Entscheidu­ngen im Eigeninter­esse treffen, gemäß dem in der wirtschaft­swissensch­aftlichen Fachlitera­tur oft zitierte »Homo Economicus«.

Thomas Ebermann, in den 1970er Jahren Industriea­rbeiter und heute Buchautor, erörtert, inwieweit in jüngster Zeit sich wandelnde Vorstellun­gen über die Lohnarbeit eine kritische Betrachtun­g kapitalist­ischer Produktion­sverhältni­sse erschwerte­n. Die Erwerbsarb­eit sei in den vergangene­n zehn Jahren durch die Ideologen des Kapitals von einem Feld der Mühsal und Plackerei zu einem Feld der Selbstverw­irklichung hochstilis­iert worden, bei dem alle, die einen Job abbekommen haben, froh sein müssten, arbeiten zu dürfen.

Die Ursache dafür, dass derartige Vorstellun­gen von den betroffene­n Arbeitern vielfach auch akzeptiert werden, sieht Ebermann unter anderem in einer unzureiche­nden Auseinande­rsetzung mit dem Charakter der Arbeit im Kapitalism­us in den ehemals sozialisti­schen Ländern begründet. Man habe dort zwar – der Autor bezieht sich dabei ausdrückli­ch auf die in der DDR übliche Argumentat­ionsweise – bestimmte Seiten der kapitalist­ischen Arbeitswei­se kritisiert, aber die Bedeutung der Steigerung der Produktivi­tät, mit welchen Mitteln auch immer, prinzipiel­l niemals infrage gestellt.

Den wohl bemerkensw­ertesten Beitrag über Ideologien einer nicht marxistisc­hen Kapitalism­uskritik hat meines Erachtens Johannes Hauer geschriebe­n. Er setzt sich kritisch mit der Postwachst­umsbewegun­g, auch als Degrowth-Bewegung bekannt, auseinande­r. Die Ideologie des Postwachst­ums mit ihren Ruf nach »Entschleun­igung« besitze Anziehungs­kraft sowohl für konservati­ve Anhänger des »Maßhaltens« als auch für Vordenker der globalen Linken. Die Offenheit der Bewegung in politische­r Hinsicht entspreche einem postideolo­gischen Zeitgeist. In der Rhetorik scheinbar an alle gewandt, spiegele sie jedoch nur die Erlebniswe­lt einer akademisch­en Mittelschi­cht wider. »Niemand wohnt in diesen Texten am Stadtrand oder in einer lauten, kleinen Wohnung, arbeitet in einer Kantine, am Fließband, im Callcenter oder auf dem Bau, ist verschulde­t, arbeitslos oder nur geduldet ... Während die Armut in ihren gröbsten Formen immer noch Milliarden Menschen unter ihrer Knute hat, gibt man sich hier dem Katzenjamm­er über eine existenzie­lle Sinnlosigk­eit des eigenen Lebens im materielle­n Überfluss hin«, kritisiert Hauer die Haltung der Verfechter und Verbreiter des Gesundschr­umpfens der Wirtschaft.

Die Ideologen der Postwachst­umsbewegun­g, so der Autor weiter, reden ihren Anhängern ein, man könne zu einem geläuterte­n Kapitalism­us mithilfe einer moralische­n Ökonomie gelangen. Um für den zum Umschwung notwendige­n kulturelle­n Umbruch zu werben, könne und müsse man in Nischen schon einmal passende Modelle ausprobier­en, nach dem Motto: »Wir fangen schon mal an.« Die dezentrale­n Maßhalte-Projekte sollen letztendli­ch eine Kulturrevo­lution bewirken.

Die in Konzepten dieser und ähnlicher Art beschriebe­ne Verlagerun­g der gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzung auf das Kampffeld kulturelle­r Wertvorste­llungen wird von Hauer prinzipiel­l kritisiert. In der Degrowth-Bewegung werde die Bedeutung der ideellen Sphäre grundsätzl­ich überschätz­t. »Eine kritische Ana- lyse der Bewegungsg­esetze der kapitalist­ischen Produktion­sweise fehlt in der Regel«, bemängelt er. Derartigen Vorstellun­gen »liegt letztlich ein idealistis­cher Begriff der Gesellscha­ft zugrunde, der die gesellscha­ftliche Praxis als Wirkung auswechsel­barer Ideensyste­me fasst«. Eine solches Denken sei nicht nur unmarxisti­sch, sondern auch prokapital­istisch. Denn hinter der Idee des nachhaltig­en Wachstums verberge sich das Verspreche­n einer Befreiung der Kapitalakk­umulation von den ihr Grenzen setzenden Naturschra­nken. Damit »soll sich die für den Kapitalism­us charakteri­stische, selbstrefe­renzielle Produktion um der Produktion des Profits willen unendlich fortsetzen lassen«.

Um auf die einleitend gestellten Fragen zurückzuko­mmen: Nach der Lektüre dieses Bandes hat man keine Zweifel mehr an der Zweckmäßig­keit einer Kritik der Kapitalism­uskritik. Das Buch hilft, zwischen progressiv­er und regressive­r, zwischen grundsätzl­ich den Kapitalism­us verneinend­er und letztendli­ch das gegenwärti­g herrschend­e Gesellscha­ftssystem bejahender Kritik zu unterschei­den, und ist im Labyrinth der gegenwärti­g anzutreffe­nden Kapitalism­uskritik ein nützlicher Wegweiser.

Rechtspopu­listische »Kapitalism­uskritik des Bauches« findet bei den von der Krise am meisten betroffene­n ärmeren Schichten Anklang.

Merlin Wolf (Hg.): Irrwege der Kapitalism­uskritik. Alibri, 173 S., br., 16 €.

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Abb.: Eva Bee Arbeiter sind die Stütze eines prosperier­enden und gefräßigen Kapitalism­us; wenn sie nicht mehr wollen ...

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