Das Liebhaberstück
Amazon-Übernahme vor fünf Jahren: Jeff Bezos glaubt an die »Washington Post«, aber nicht an die gedruckte Zeitung
Vor fünf Jahren um diese Zeit, mitten im Washingtoner Hochsommer, war das Betriebsklima in der ältesten Hauptstadtzeitung eisig, aufgewühlt und der Optimismus der Beschäftigten ungefähr so stark wie das Anstandsgefühl Donald Trumps. Auf der Belegschaftsversammlung am Sitz der »Washington Post« Company standen, ein Montag wie heute, lang gediente Redakteure unter Tränen und die Zukunft der Zeitung in den Sternen. Donald E. Graham, oberster Chef der Firmengruppe, und Nichte Katharine Weymouth, Verlegerin der »Post«, brachten der Belegschaft den Verkauf des Blattes an AmazonGründer Jeff Bezos, damals 49, bei.
Genau achtzig Jahre im Besitz der Verlegerfamilie Graham gingen da zu Ende, herbeigeführt vom Aufstieg des Internets und einer Mehrfachklemme, die heute jede gedruckte Tageszeitung kennt: sinkende Auflage, schrumpfende Einnahmen, wachsende Lebensgefahr. Vor den Mitarbeitern der Zeitung, die so große Namen wie Ben Bradlee, Carl Bernstein und Bob Woodward hervorbrachte und so historische Enthüllungen besorgte wie zum Watergate-Skandal oder der von Edward Snowden publik gemachten NSA-Globalbespitzelung. Donald Graham erklärte: »Die ›Post‹ hätte unter den bisherigen Bedingungen überleben und absehbar profitabel bleiben können. Aber wir wollten mehr als bloß überleben. Der jetzige Verkauf garantiert den Erfolg nicht, doch er gibt uns viel größere Erfolgsaussichten.«
Fünf Jahre danach ist die 1877 gegründete, täglich erscheinende »Post« profitabler. Daran hat der kleine, schmale, sportliche Mann Hauptanteil. Jeff Bezos war aus Seattle, dem Sitz von Amazon im anderen Washington, dem Bundesstaat an der Westküste, an die Ostküste gekommen. Für 250 Millionen Dollar in bar erwarb er die wichtigste Tageszeitung der Regierungsmetropole samt ihrer Nebenprodukte als Privatperson, nicht als Amazon-Chef. Er nahm das Blatt von der Börse und befreite sich so von der Pflicht, regelmäßig über Verluste und Einnahmen berichten zu müssen. Auch bei Experimenten mit der Zeitung brauchte er weder Zustimmung von Aufsichtsrat oder einer Aktionärsversammlung. Vor allem aber begann Bezos die Zeitung technologisch zu modernisieren – ohne die inhaltliche Linie des bürgerlich-liberalen Blattes zu korrigieren.
Ähnlich wie bei der »New York Times«, der Großrivalin von nebenan, weist die Auflage, insbesondere der online-Ausgabe, nach oben, es steigen Abo- und Umsatzzahlen. Hauptgrund: »Times« und »Post« sind nicht nur Traditionsblätter, sie sind vor allem die bekanntesten, intelligentesten und schlagkräftigsten Me- diengegner Trumps. Wer sich hier verwundert die Augen reibt und entrüstet fragt: Was, zwei großbürgerliche Blätter sollen wirksamste Gegner eines milliardenschweren Präsidenten sein, dem muss man sagen: Die Frage ist berechtigt, doch die Antwort lautet ja.
»Times« und »Post« haben sich zu akribischen, journalistisch vorgehenden Kritikern dieses 45. Präsidenten entwickelt und sich so redlich dessen tägliche Wut auf »die Volksfeinde in den Medien« erarbeitet. Trumps Einzug ins Weiße Haus hat in der »Post« unter anderem zur Einrichtung einer »Faktenprüfer«-Analyse geführt. Die teilte soeben mit, Trump habe in 558 Amtstagen 4229 erwiesene Lügen oder irreführende Feststellungen begangen. Das Mühen um Qualitätsjournalismus in Zeiten präsidentieller Cholera zahlt sich aus. Belastbare Enthüllungen, zuverlässige Infos und Kommentierung mit Augenmaß finden unter einem maßlosen, charakterlosen und mafiösen Präsidenten dankbare Leser, nicht wenige von ihnen neue.
Journalistisch kompetente Reibung an einem grotesken Präsidenten ist der inhaltliche Faktor, der das Zeitungsgeschäft belebt hat. Zumindest für die »Post« und die »Times«. Der zweite, nicht minder wichtige ist die dank des potenten Eigentümers großzügige technologische Modernisierung. Der Computerwissenschaftler und Princeton-Absolvent Bezos, mit aktuell geschätztem Vermögen von 100 Milliarden Dollar Nummer eins der von »Forbes« geführten Rangliste der reichsten Personen der Welt, erweiterte die »Post« zu einem Technologieunternehmen, in dem unter den 700 Verlagsmitarbeitern immer mehr Techniker sind. Analysten bestätigen, so sei aus einer regional begrenzten Zeitung, deren Druckauflage 2016 bei 580 000 gelegen haben soll, ein international wahrgenommener digitaler Nachrichten- und Meinungslieferant geworden.
Viele Redakteure und Redakteurinnen sind heute dankbar für den Kauf der Zeitung durch Bezos. Sie erwarten inzwischen allerdings stärkere finanzielle Wertschätzung. Hier baut sich ein Konflikt auf, den die Öffentlichkeit vor allem aus dem Bezos-Imperium Amazon kennt: aggressiver Lohndruck und Gewerkschaftsfeindlichkeit. Begünstigt wird dies von der krisenhaften Gesamtentwicklung der Printmedien. Sie äußert sich in den USA, wo die Zeitungsleserzahl bereits unter 15 Prozent liegt, schärfer als in Europa. Zu dieser Regel bildet die »Post« derzeit eine gewisse Ausnahme. Vorigen September erreichte sie erstmals mehr als eine Million onlineAbonnenten. Sein Wort aus den Tagen der Übernahme hat Bezos gehalten, sich nicht ins Redaktionsgeschäft einzumischen. Bislang verhält er sich nicht wie die Heuschrecke, die schnelle Rendite will oder aber den Appetit verliert und verkauft. Bisher betrachtet er die »Watergate-Zeitung« als werthaltiges Produkt und nicht als xbeliebige Profitquelle.
Wer in solcher Deutung naive Missachtung Marxscher Profitlogik sieht, möge bedenken, dass der Milliardär eine Zeitung, die ihn ein Taschengeld kostete, nicht nur unter Profitblickwinkel beurteilt. In den ersten fünf Jahren erwies sich Bezos als Mäzen und Förderer eines Liebhaberstücks. Automatisch in die Zukunft verlängern lassen sich Vorhersagen damit nicht. Das weiß Bezos besser als andere. Er, der auch E-Book und Leseapparat Kindle erfand, bekennt seinen Glauben an guten Journalismus, nicht aber an die Printzukunft. 2013, beim Kauf der »Post«, sagte er: »Über eines bin ich mir sicher: In 20 Jahren wird es keine gedruckten Zeitungen mehr geben.« Hoffentlich irrt er darin.
Auch bei Experimenten mit der Zeitung brauchte Bezos weder Zustimmung von Aufsichtsrat oder einer Aktionärsversammlung. Vor allem aber begann er die Zeitung technologisch zu modernisieren.