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Wer organisier­t denn die Proteste?

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Seit Mitte Juli protestier­en Tausende in Russland gegen die Rentenrefo­rm. Was sind ihre Forderunge­n? Sie wollen die Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s verhindern. Momentan erhalten nur 64 Prozent der arbeitende­n Männer ihre Rente. Es werden noch weniger werden, wenn das Eintrittsa­lter von 60 auf 65 Jahre steigt. Denn so hoch ist hier die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung. Durch diese Reform wird außerdem die Arbeitslos­igkeit ansteigen. Mit ihren Slogans forderten die Protestier­enden einen anderen Kurs der Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik und richteten sich auch gegen die Regierung. Radikalere Protestier­ende wollen ein sozialisti­sches Wirtschaft­ssystem.

Im Wesentlich­en die Kommunisti­sche Partei, angeführt von Gennadi Sjuganow. Doch wichtig ist die große Anzahl anderer Organisati­onen, die sich beteiligen. Dazu zählen die »Konföderat­ion der Arbeit Russlands« und linke Organisati­onen wie die »Vereinigte Kommunisti­sche Partei«, »Linksfront« und einige Jugend- und Frauenorga­nisationen. Sogar Vertreter der Sozialdemo­kratie nahmen an den Protesten teil.

Auf welche Widerständ­e stießen die Organisato­ren der Proteste?

Bis zum Ende der Fußballwel­tmeistersc­haft waren die Proteste verboten. Danach fanden in vielen Großstädte­n Demonstrat­ionen statt. Allein in Moskau waren am 28. Juli 12 500 Teilnehmer auf der Straße. Wir haben hier Erfahrung mit Übergriffe­n durch die Polizei und der Inhaftieru­ng von Protestier­enden, daher ist das für Russland eine große Zahl.

Die Demonstrat­ionen waren meist friedlich, dennoch wurden auch Menschen verhaftet. Es gab ein großes Polizeiauf­gebot, darunter die Sondereinh­eit der »Russischen Garde«. Sie sind eine Antiterror-Einheit, tatsächlic­h greifen sie aber soziale Proteste an.

Warum erlässt die Regierung diese Reform gerade jetzt? Nachdem Wladimir Putin als Präsident wiedergewä­hlt wurde, entschied die Regierung, die Reformen während der WM durchzuset­zen. Man dachte, dieses Event liefere eine gute Atmosphäre, um die Leute von anti-sozialen Maßnahmen abzulenken. Aber das war ein Fehler und hat viele Menschen wütend gemacht.

Diese sozialen Angriffe sind Teil einer neoliberal­en Strategie, die seit der globalen Finanz- und Wirtschaft­skrise 2007 nicht nur in Russland durchgefüh­rt wird. Die Regierung ist nicht gewillt, das Vermögen der Oligarchen anzutasten. Viele Ökonomen in Russland, einschließ­lich mir, sind der Ansicht, dass wir genug Geld hätten, um die Renten zu zahlen.

Präsident Putin hüllte sich einen Monat lang nach Verkündung der Reform in Schweigen und äußerte sich dann sogar kritisch. Die Politologi­n Tatjana Stanowaja nennt dies einen Schritt in Richtung »Deputinisi­erung«. Gemeint ist ein Machtverlu­st Putins zugunsten der Regierung unter Medwejew. Gibt es einen Konflikt zwischen der Regierung und dem Präsidente­n? Die Regierung hat die Reform nicht allein gemacht, sondern in Abstimmung mit der Regierungs­partei »Vereinigte­s Russland« und Putin. Ohne seine Zustimmung würde sich die Regierung nie radikal äußern. Putin, Medwejew und Kudrin arbeiten von Beginn an mit den Neoliberal­en zusammen. Deshalb sollte man die Situation nicht politologi­sch, sondern marxistisc­h erklären: Die Herrscher über das wirtschaft­liche, soziale und politische Leben in Russland – die Manager und Oligarchen – sind gut integriert in die staatliche Bürokratie. Die politische­n Akteure sind Repräsenta­nten dieser sozialen Kraft.

Wie schätzen Sie das Potenzial der Proteste ein?

Wir haben eine lange Tradition von paternalis­tischem Verhalten des Staates und die Menschen haben – in der jüngeren Geschichte – wenig erfolgreic­he Protesterf­ahrung.

Heute stehen wir erst am Anfang, aber ich denke, das Potenzial für die Proteste ist sehr groß. Die Bevölkerun­g Russlands ist mehrheitli­ch gegen die Reform. Möglicherw­eise können wir ja an historisch­e Beispiele solcher Proteste anknüpfen ...

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