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Kühles Waldbad

Die Heilwirkun­g des Waldes wird schon lange erforscht, Kurse und Seminare dazu gibt es auch hierzuland­e

- Von Angela Stoll

Trend aus Japan: Entspannun­g unter Bäumen.

Waldbaden, ein Trend aus Japan, ist auch hierzuland­e angesagt. Bei meditative­n Übungen inmitten von Bäumen kann man den Alltagsstr­ess vergessen. Bikini und Badelatsch­en? Nicht nötig. Wer zum Waldbaden geht, springt in keinen Tümpel, sondern taucht mit meditative­n Übungen tief ein in die Natur. So haben die Frauen, die sich in Horgau im Landkreis Augsburg auf den Weg machen, bloß Isomatten unter den Arm geklemmt. Die meisten von ihnen nehmen zum ersten Mal ein Bad im Wald: Um sich zeigen zu lassen, wie diese neue Methode des Naturerleb­ens funktionie­rt, haben sie bei der Heilprakti­kerin Henrika Vogt einen Volkshochs­chulkurs gebucht.

Das Waldbaden und ähnliche Angebote in der Natur erleben derzeit einen ungeahnten Boom in Deutschlan­d. Von Nord bis Süd werden Kurse, Seminare und Fortbildun­gen dazu angeboten. Hotels und Kurorte haben die Methode für sich entdeckt. Auf Usedom wurde im vergangene­n September der erste Kur- und Heilwald eröffnet. »Aus der Erholungsf­orschung weiß man schon lange, dass uns Wald guttut«, sagt Lena Friedmann von der Technische­n Universitä­t München, die im Rahmen eines Projekts den therapeuti­schen Beitrag von Wäldern zur menschlich­en Gesundheit erforscht. »Einen medizinisc­hen Beweis hatte man dafür bisher nicht. Inzwischen gibt es aus verschiede­nen wissenscha­ftlichen Bereichen Ergebnisse, die das Gefühl der Waldbesuch­er bestätigen.«

Tatsächlic­h belegen mehrere Studien: Spaziergän­ge und meditative Aufenthalt­e im Wald wirken entspannen­d, senken den Blutdruck, verringern die Ausschüttu­ng von Stresshorm­onen und aktivieren das Immunsyste­m. Kommt hinzu, dass der Zeitgeist geprägt ist von einem Bedürfnis nach gesundem Lifestyle und mehr Naturnähe. »Da bietet der Wald einen Raum, um sich ohne urbanen Stress oder Leistungsd­ruck auf das Wesentlich­e zu konzentrie­ren und sich mit der Natur zu verbinden«, meint Friedmann.

Ein breiter Weg führt den Hang hinauf, der Wald ist in Sichtweite. »Bäume geben uns die Ruhe und Gelassenhe­it, nach der wir uns im Alltag oft sehnen«, sagt Henrika Vogt zur Einstimmun­g. »Im Wald zu sein ist ein Stück weit wie nach Hause kommen. Wir spüren, dass wir Teil eines großen Systems sind.«

Weiter geht es in Richtung Fichten. Es ist leise geworden. Nur noch der Schotter, der unter den Schuhen knirscht, ist zu hören. In einem lichten Waldabschn­itt mit jungen Buchen soll sich jede Teilnehmer­in eine Stelle suchen, die sie als angenehm empfindet. Es folgen sanfte Deh- nungs- und Atemübunge­n, erst stehend, dann auf der Matte liegend. Wie ungewohnt ist es, Bäume aus der Rückenlage zu betrachten! Sonnenstra­hlen brechen sich in den Baumkronen. Vom Himmel sind ein paar winzige, bläuliche Flecken zu sehen. Die Blätter werden angestrahl­t und erscheinen in unterschie­dlichen Grüntönen. Jetzt heißt es: Augen schließen. Das Gezwitsche­r der Vögel wirkt auf einmal laut. Die Erde riecht würzig, ein bisschen nach Pilzen. Wie aus der Ferne hört man Henrika Vogts ruhige Stimme: »Wir atmen ein und aus, halten beim Wieder-Einatmen die Waldluft für einen Moment in uns zurück.« Alles gerät in Vergessenh­eit. »Mit einem Seufzer lassen wir alle schweren Dinge aus uns herausströ­men.«

Hierzuland­e ist das Waldbaden noch neu. Geprägt wurde der Begriff in Japan, wo man seit den 1980er Jahren »Shinrin Yoku« praktizier­t. Heute gibt es dort mehr als 60 Waldtherap­iezentren, spezielle Therapiewe­ge und einen universitä­ren Forschungs­zweig für Waldmedizi­n. Warum ausgerechn­et im dicht besiedelte­n Japan? Jenseits der großen Städte ist das Land stark bewaldet und zeichnet sich zudem durch eine extrem große Artenvielf­alt aus. Abgesehen davon hat die Verehrung von Bäumen dort eine lange Tradition. Sie stehen, schreibt Yoshifumi Miyazaki in seinem Buch »Shinrin Yoku«, beispielha­ft für den Einklang des Menschen mit der Natur. Der Autor, heute Professor für Umwelt, Gesundheit und Feldforsch­ung an der Universitä­t Chiba, ist einer der Pioniere des Waldbadens. Als Kind staunte er darüber, wie entspannt er auf einmal war, wenn er dem Vater bei der Gar- tenarbeit half. Das erklärte er sich mit der heilsamen Wirkung von Blumen und Bäumen, die er viele Jahre später wissenscha­ftlich untersucht­e.

Der Mensch, meint Miyazaki, habe sich in jüngster Zeit immer weiter von der Natur entfremdet. Evolutions­geschichtl­ich betrachtet, sind Städte nämlich recht neu. »Der Mensch hat mehr als 99,99 Prozent seiner Zeit in einer natürliche­n Umgebung verbracht. Er ist in seinen physiologi­schen Funktionen also an die Natur angepasst«, schreibt er. »Kommen wir in Kontakt mit der Natur, mit Wäldern, Parks oder Blumen, sind wir entspannt.« Im Rahmen eines zwölf Jahre dauernden Projekts schickte Miyazaki Hunderte von Studenten in Wälder und Städte, um zu vergleiche­n, wie sich die Umgebung auswirkte. In der Tat zeigte sich, dass die Probanden nach einem Waldspazie­rgang entspannte­r waren, zum Beispiel einen niedrigere­n Blutdruck, eine verringert­e Pulsfreque­nz sowie niedrigere Konzentrat­ionen des Stresshorm­ons Cortisol aufwiesen.

Dabei spielt nicht nur die Ruhe eine Rolle, die Bäume, Grüntöne und Vogelstimm­en ausstrahle­n, sondern auch die Zusammense­tzung der Waldluft. Wissenscha­ftler um den Umweltimmu­nologen Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio maßen bei Versuchspe­rsonen nach Waldspazie­rgängen mehr natürliche Killerzell­en, die für die Regulierun­g des Immunsyste­ms verantwort­lich sind. Das erklärten sie damit, dass die Spaziergän­ger Phytonzide eingeatmet hatten – Stoffe, die von Pflanzen gebildet werden, um sich vor Bakterien und Insekten zu schützen.

Im Wald bei Horgau haben sich die Frauen inzwischen aufgesetzt und betrachten kleine Gegenständ­e, die sie am Boden gefunden haben. Mal ist es ein Stöckchen, mal ein kleiner Zapfen. Aufmerksam soll man ihn wahrnehmen, seine Form, die Farben, den Geruch. Auch wenn das alte Stück Holz oder das welke Blatt noch so unauffälli­g wirken, sind sie doch »Teil des Lebens – so wie wir«, sagt Henrika Vogt. Es ist wieder still. In der Ferne schlägt eine Kirchenuhr. Behutsam stimmt Vogt die Teilnehmer­innen auf weitere Wahrnehmun­gsübungen ein: sich an einen Baumstamm lehnen und seine Kraft spüren. Barfuß über den Waldboden laufen. »Aber niemand muss das machen«, betont sie. Doch fast alle ziehen sich Schuhe und Strümpfe aus. Wer hätte gedacht, dass sich der blätterbed­eckte Boden so weich anfühlt! Die eine oder andere ist so froh, von Schuhen befreit zu sein, dass sie barfuß zurückgeht.

Im Grunde genommen, meint die Heilprakti­kerin, kann man auch auf eigene Faust zum Waldbaden gehen. »Anhalten und etwas wahrnehmen, darauf kommt es an«, betont sie. Wer danach wieder im Alltagsstr­ess gefangen ist, kann immerhin versuchen, sich die Sinneseind­rücke ins Gedächtnis zu rufen: Vielleicht hilft es schon, sich kurz zurückzuzi­ehen und an die friedliche­n Bäume zu denken, wenn der Chef schlechte Laune hat. Oder man beruhigt sich mit Bildern: Vogt schaut sich auf ihrem Laptop gerne selbst aufgezeich­nete WaldVideos an. Sogar das wirkt.

Probanden waren nach dem Waldspazie­rgang entspannte­r, hatten niedrigere­n Blutdruck und eine geringere Pulsfreque­nz.

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Foto: 123rf/Vaclav Volrab
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Foto: imago/Photocase Ruhe, viele Grüntöne und gute Luft machen Entspannun­g im Wald einfacher.

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