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Clemens wünscht sich einen Einbrecher

Gianna Molinari fängt in ihrem Roman »Hier ist noch alles möglich« behutsam die Befindlich­keiten der Mittelklas­se ein

- Von Christian Baron Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Aufbau, 192 S., geb., 18 €.

Wovon träumt eine Person, die alles hat? Die Ich-Erzählerin in Gianna Molinaris soeben erschienen­em Romandebüt »Hier ist noch alles möglich« weiß es: »Ich sehne mich nach Unsicherhe­it, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichke­it. Ich möchte unterschei­den können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichte­n zugleich.«

Es ist genau dieser Sound, den zuletzt der Großschrif­tstellerso­hn Simon Strauß in seinem Essay »Sieben Nächte« angeschlag­en hat. Viele Feuilleton­isten erkannten sich in dieser traurigen Abwesenhei­t von Leben offenbar wieder, und so verkaufte sich das die Belanglosi­gkeit einer privilegie­rten Existenz gnadenlos ausschlach­tende Werk blendend.

Im Gegensatz zu Strauß schwingt bei Molinari zwischen den Zeilen nicht die aus dem frühen 20. Jahrhunder­t sattsam bekannte Sehnsucht nach einem Stahlbad hindurch. Nein, diese junge Frau zieht nicht in den Krieg, sondern in eine Fabrik. Vom Beruf der Bibliothek­arin gelangweil­t, nimmt sie einen Job an als Nachtwächt­erin in einem kurz vor der Schließung stehenden Betrieb, der irgendwo im Nirgendwo am Rande einer kleinen Stadt vor sich hingammelt.

So ganz erschließt sich nicht, weshalb der selten anwesende Chef diese Bude nicht längst dicht gemacht hat. Und das passt sehr gut in die Atmosphäre des Vagen und Offenen, die dieses Buch vermittelt. Für die junge Frau, deren Name nicht genannt wird, ist die Fabrik genau der richtige Ort. Auf diesem Gelände arbeitet sie nicht nur, sie wohnt auch hier. Ihre menschlich­en Kontakte beschränke­n sich auf das überschaub­are Personal mit und ohne Anstellung, das ihr als Sparringsp­artner dienen darf auf der Suche nach Sinn und Form: der Koch, Clemens, Lose, Erika – und ein Wolf, den niemand je gesehen hat, der aber angeblich umherstrei­ft.

Die Mitarbeite­r stellen Tellereise­n auf, graben eine Grube, erwarten die Ankunft des Tiers. An diesem in der Literaturg­eschichte so viel beachteten Geschöpf arbeitet sich die Erzählerin ab. Der Wolf ist der nicht Anwesende, der omnipräsen­t zu sein scheint. Er verkörpert jene Unsicherhe­it, die ihr gelegen kommt. »Clemens wünscht sich einen Einbrecher«, sagt sie eines Nachts, und sie fügt hinzu: »Auch ich habe mir schon einen Einbrecher gewünscht.« Der Kabarettis­t Rainald Grebe hat diesen von Molinari in ihrer trockenen Sprache behutsam eingefange­nen Mittelklas­seblues in seinem Lied »Familie Gold« so poetisiert: »Unsere Eltern haben uns mit Hanuta beworfen, un- sere Nachbarn mit Nivea-Creme. / Es hat uns an nichts gefehlt, aber genau das war das Problem.«

Und dann fällt ein Mensch vom Himmel. Lose hat ihn stürzen sehen, die Erzählerin findet dessen Aufzeichnu­ngen in einer Mappe. Es war ein afrikanisc­her Flüchtling, der sich offenbar im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt hatte, dort erfroren war, und dessen Leichnam dann, als die Maschine zur Landung ansetzte, hinauskata­pultiert wurde.

Für diese Binnenerzä­hlung, deren Eckdaten Molinari tatsächlic­h einer Medienmeld­ung entnommen hat, erhielt die Absolventi­n des Schweizeri­schen Literaturi­nstituts Biel im vergangene­n Jahr den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Es spricht für sich, dass die harte Realität in das Dasein der Hauptfigur auf eine deren Handeln entzogene Weise einbricht. Sie reflektier­t nicht, welche globalkapi­talistisch­en Mechanisme­n einen Menschen dazu bringen, sich in ein Fahrwerk zu zwängen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Viel zu sehr hat sie damit zu tun, sich ihr eigenes Bild von der Welt zu gestalten.

Das geschieht über Zeitungsau­sschnitte, Zeichnunge­n und Fotos, die Molinari in den Text montiert hat. Während das Warten auf den Wolf weitergeht, hilft das wohl beim Fahnden nach dem Wesen aller Dinge. Mo- linaris achtsam geschriebe­ner Roman lebt von diesem Grundgefüh­l einer Generation, die ob allzu vieler Optionen nicht mehr weiterweiß. Jahrzehnte­lang sind Frauen für das Recht eingetrete­n, Karriere machen zu dürfen. Sie imitierten das soziale Geschlecht des Mannes, lachten gequält an Hotelbars beim Whisky über Herrenwitz­e, gewöhnten sich strenge Tonlagen an, und sie fuhren die Ellbogen aus, wenn es nötig erschien. Nun betrachten aber viele Frauen der »Generation Y«, der auch die Protagonis­tin in diesem Buch angehört, all das kaum mehr als Errungensc­haften.

Karriere machen wollen sie noch immer, aber nicht mehr ohne Sinn und Verstand. Männliche wie weibliche Ypsiloner, so beschreibt es die Journalist­in Christiane Florin in ihrer 2014 erschienen­en Polemik »Warum unsere Studenten so angepasst sind«, haben ein anderes soziales Bewusstsei­n als ihre Vorgängerg­eneration: »Die soziale Frage wirkt auf sie wie ein akademisch­es Konstrukt vergangene­r Tage. Social Media, Urban Gardening und Containern reichen als Ausweis sozialer Sensibilit­ät. Occupy war eine Zeitlang cool, aber es ist leichter, gegen eine anonyme Finanzindu­strie zu sein als für Mandy aus der Hartz-IVFamilie in Bonn-Dransdorf.«

»Unsere Eltern haben uns mit Hanuta beworfen, unsere Nachbarn mit Nivea-Creme. /

Es hat uns an nichts gefehlt, aber genau das war das Problem.« Rainald Grebe

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