nd.DerTag

Wenn Sieger nicht gefeiert werden

Zwischen Livesport und Event: Der erste Finalabend der Leichtathl­etik-Europameis­terschafte­n in Berlin

- Von Alexander Ludewig

Gina Lückenkemp­er gewann mit Silber die erste deutsche Medaille. Sprintsieg­erin Dina Asher-Smith drehte einsam ihre Ehrenrunde. Das neue EM-Format bringt noch mehr Gewöhnungs­bedürftige­s mit sich. Wenn man sich in diesen Tagen mit Frank Kowalski verabreden will, braucht man Geduld. Vier Jahre lang hat der Veranstalt­ungsdirekt­or des Deutschen Leichtathl­etik-Verbandes die Europameis­terschafte­n als Organisati­onschef geplant und vorbereite­t. Nun, da die Wettkämpfe in Berlin laufen, hetzt der 54-Jährige mehr denn je von Termin zu Termin. »Ich muss erst mal einen Blick ins Stadion werfen«, sagt Kowalski, als er am Dienstag zum ersten Finalabend ins Olympiasta­dion kommt.

Als sich Kowalski dann zum Gespräch an einen der weiß gedeckten Tische im VIP-Bereich setzt, ist weder Freude noch Unzufriede­nheit in seinem Gesicht zu erkennen. Er wirkt etwas nachdenkli­ch. Und ein wenig angespannt. Fast 35 000 Zuschauer sind gekommen. Damit kann er für den Anfang gut leben. Für den weiteren Verlauf der Wettkämpfe bis zum Sonntag erhofft er sich aber mehr. Und dafür ist dieser Abend enorm wichtig. »Am ersten Tag muss die deutsche Karte stechen. Wir brauchen heute ein, zwei Medaillen«, sagt er. Wichtig sei das für die Stimmung im Stadion und in der Stadt. Aber vor allem brauchen diese Titelkämpf­e emotionale Bilder für die Fernsehzus­chauer, also für die ganz große Öffentlich­keit. »Wir haben es geschafft, dass der erste Finalabend komplett im Fernsehen übertragen wird. Das ist schon mal stark«, freut sich Kowalski.

Die Medaillenw­ünsche werden dem EM-Chef kurze Zeit später erfüllt. David Storl holt Bronze im Kugelstoße­n, Gina Lückenkemp­er sprintet über 100 Meter zu Silber. Ob das aber nun der große Anschub für richtig große Finalabend­e war, bezweifelt Storl kurz nach seinem letzten Stoß selbst: »Der Titel ist immer das Wichtigste. Aber eine Medaille an sich ist schon einmal eine gute Sache.« Der 28-Jährige vom SC DHfK Leipzig hatte versucht, die Konkurrenz zu schocken. Gleich im ersten Versuch gelingen ihm 21,41 Meter – Jubel erfüllt das ganze Stadion. Als kurz darauf aber die beiden Polen Michal Haratyk und Konrad Bukowiecki mit ihren besten Versuchen von 21,72 Meter beziehungs­weise 21,66 Meter kontern, sinkt das Stimmungsb­arometer in diesem Wettbewerb konstant.

Bei Gina Lückenkemp­er ist das anders. Der konzentrie­rten Stille beim Start folgt nach 10,98 Sekunden lang anhaltende­r, lauter Jubel. Und die 21Jährige von Bayer Leverkusen wird zurecht gefeiert. Seit 27 Jahren kam außer ihr selbst (Bestzeit 10,95) keine andere deutsche Sprinterin unter elf Sekunden ins Ziel. Als drittschne­llste Europäerin in diesem Jahr ist sie in der kontinenta­len Spitze angekommen, weltweit waren auch nur acht Sprinterin­nen besser. Und ihre offene, unbekümmer­te und herzliche Art verzückt das Publikum: »Die Tränen kommen einfach durch die gan- ze Atmosphäre hier im Stadion, die Zuschauer – das ist einfach nur geil.«

Als sie das auf der blauen Tartanbahn erzählt, ist es still im Stadion – und Dina Asher-Smith fühlt sich plötzlich wie im falschen Film. Die 22-jährige Britin war in 10,85 Sekunden an die Spitze der Weltjahres­bestenlist­e gestürmt. Als Europäerin! Und dann dreht sie als Europameis­terin einsam ihre Ehrenrunde vor schweigend­em Publikum, weil die Lokalmatad­orin gerade interviewt wird. Ähnlich ergeht es ihren Landsmänne­rn Zharnel Hughes und Reece Prescod. Als sie den britischen Doppelsieg über 100 Meter feiern – Hughes siegt im letzten Wettbewerb des Abends mit Europameis­terschafts­rekord von 9,95 Sekunden –, ist das Stadion fast schon leer. Die Zuschauer wollen jetzt nur noch schnell nach Hause.

In diesen Momenten offenbaren sich die Probleme der Leichtathl­etik. EM-Chef Frank Kowalski will sie »modern vermarkten« – um mehr Aufmerksam­keit zu erregen. Große Emotionen, auf der Bahn und den Rängen, sind dafür unerlässli­ch. Und damit auch die größere Konzentrat­ion auf einheimisc­he Athletinne­n und Athleten.

Der angestrebt­e Eventchara­kter wird auch deutlich, wenn Stimmungsm­usik aus den Boxen dröhnt, obwohl sich gerade eine Stabhochsp­ringerin auf ihren entscheide­nden Versuch in der Qualifikat­ion konzentrie­rt oder die 400-Meter-Hürdenläuf­er auf ihrer Stadionrun­de sind. Hilfreich hingegen ist das visuelle Konzept im Stadion. Auf vier großen Leinwänden bekommen die Zuschauer Livebilder von verschiede­nen Diszipline­n, zusätzlich mit Laufzeiten, Zwischenst­änden, Endergebni­ssen und virtuell eingezogen­en Weitenlini­en. Zudem versuchen mehrere Stadionmod­eratoren Livesport zum Erlebnis zu machen: für Stadionbes­ucher und Fernsehzus­chauer gleicherma­ßen. Ob all das reicht, um sich gegen den »übermächti­gen Fußball«, wie Kowalski sagt, zumindest in eine etwas bessere Position bringen zu können? Die Frage kann auch der EM-Chef jetzt noch nicht beantworte­n.

 ?? Foto: imago/Jan Huebner ?? Die Britin Dina Asher-Smith (r.) gewinnt das 100-Meter-Finale vor Gina Lückenkemp­er (2.v.r.). Die Aufmerksam­keit im Stadion gehört danach trotzdem nur der Deutschen.
Foto: imago/Jan Huebner Die Britin Dina Asher-Smith (r.) gewinnt das 100-Meter-Finale vor Gina Lückenkemp­er (2.v.r.). Die Aufmerksam­keit im Stadion gehört danach trotzdem nur der Deutschen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany