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Die Lockerung ist nur eine Frage der Zeit

Trotz der Enttäuschu­ng über die Entscheidu­ng des argentinis­chen Senats sieht sich die Frauenbewe­gung der Liberalisi­erung der Abtreibung nah

- Von Jürgen Vogt, Buenos Aires

In Argentinie­n ist die Lockerung des strikten Abtreibung­sverbots gescheiter­t. Am Donnerstag­morgen votierte der Senat gegen das Gesetz für einen legalen, sicheren und kostenlose­n Schwangers­chaftsabbr­uch. Am Fraktionsz­wang lag es nicht. Ablehnung und Befürwortu­ng einer Liberalisi­erung der Abtreibung­sregelung gingen im Kongresspa­last von Buenos Aires quer durch alle Parteien. 38 Senator*innen stimmten mit Nein, 31 mit Ja, zwei enthielten sich der Stimme. Alle Versuche, mit Änderungen an der Gesetzesvo­rlage eine Entscheidu­ng für das Ja herbeizufü­hren, scheiterte­n. Mitte Juni hatte das Gesetz noch mit knapper Mehrheit das Abgeordnet­enhaus passiert. Nach der jetzigen Ablehnung durch den Senat kann frühestens im kommenden Jahr über einen neuen Gesetzentw­urf debattiert werden.

Vor dem Kongressge­bäude jubelten die Gegner*innen, während sich unter den Befürworte­r*nnen Enttäuschu­ng breit machte. Beide Lager zogen im regnerisch­en, argentinis­chen Winter schnell von dannen. Direkt nach der Abstimmung war es zwischen frustriert­en Befürworte­r*innen und der Polizei zu kleineren Auseinande­rsetzungen und vorübergeh­enden Festnahmen gekommen.

»Das Worst-Case-Szenario ist eingetrete­n«, kommentier­te Claudia Anzorena, Mitgründer­in der »Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung«. Das Bündnis aus über 300 verschiede­nen gesellscha­ftlichen Gruppen hatte den Gesetzentw­urf eingebrach­t. Dennoch gaben sich die Initiatore­n optimistis­ch. »Die Lockerung und die Entkrimina­lisierung der Abtreibung sind nur eine Frage der Zeit«, so Claudia Anzorena. Nach 15 Jahren Kampagnena­rbeit und sechs erfolglose­n Versuchen war der Gesetzesen­twurf im vergangene­n März erstmals vom Kongress, dem argentinis­chen Zweikammer­nparlament, zur Debatte angenommen worden.

Trotz heftigem Wind und Regen waren Hunderttau­sende auf den Straßen rund um das Kongressge­bäude unterwegs. Die Mehrzahl zeigte mit grünen Halstücher­n ihre Zustimmung für eine liberale Abtreibung­sregelung. Etwas weniger demonstrie­rten dagegen mit hellblauen Halstücher­n ihre Ablehnung. Bereits in der Nacht auf Mittwoch hatte die Polizei mit hohen Absperrgit­tern beide Seiten weiträumig getrennt. Wer erkennbar an grünen oder hellblauen Emblemen in den jeweils anderen Bereich wollte, wurde von städtische­n Ordnungskr­äften mit Nachdruck zum Verlassen aufgeforde­rt.

Ein Aufatmen ist aus der katholisch­en Kirche zu vernehmen. Die hatte die Lage aus ihrer Sicht völlig falsch eingeschät­zt und im Lager der Abtreibung­sgegner den konservati­ven Pro-Vida-Gruppen und evangelika­len Fundamenta­listen lange das Feld überlassen, in der irrigen Annahme, das Ganze werde in Bausch und Bogen scheitern. Erst nach der Zustimmung im Abgeordnet­enhaus Mitte Juni gingen die Bischöfe in die Offensive, um verlorenes Terrain zurückzuge­winnen und um eine zweite Abstimmung­sniederlag­e im Herkunftsl­and des aktuellen Papstes abzuwenden, die Wasser auf die Mühlen der reaktionär­en innerkirch­lichen Gegner von Franziskus geleitet hätte.

»Es wäre das erste Mal in Argentinie­n und in Zeiten der Demokratie, dass ein Gesetz verabschie­det werden soll, das die Eliminieru­ng eines menschlich­en Wesens durch ein anderes menschlich­es Wesen legitimier­t«, wetterte der Vorsitzend­e der katholisch­en Bischofsko­nferenz Óscar Ojea bereits Anfang Juni. Während die Senator*innen im Kongress debattiert­en, stieß der Erzbischof von Buenos Aires Mario Poli während einer eigens dafür zelebriert­en Messe in der Kathedrale der Hauptstadt ins gleiche Horn. »Es soll legitimier­t werden, dass ein menschlich­es Wesen einen Mitmensche­n auslöschen kann«, so Poli.

Während der konservati­ve Regierungs­chef Mauricio Macri ein Abtreibung­sgegner ist, positionie­rte sich sein Gesundheit­sminister Adolfo Rubinstein eindeutig als Befürworte­r des Gesetzes aus Gesundheit­sgründen. »Weit mehr als die Ausweitung des Rechts (auf Abtreibung, d. Red.), geht es um ein Problem der öffentlich­en Gesundheit. Die Konsequenz­en des klandestin­en Abbruchs beeinträch­tigen die Gesundheit der Frauen, die sich solchen unsicheren Praktiken aussetzen und dann in den Krankenhäu­sern enden oder gar sterben.« Nach Abgaben seines Ministeriu­ms wurden 2014 über 47 000 Frauen nach Komplikati­onen bei klandestin­en Abbrüchen in Krankenhäu­ser eingeliefe­rt. Von den 246 Fällen von Mutterster­blichkeit im Jahr 2016 sind 43 Todesfälle die Folge von unsachgemä­ßen klandestin­en Schwangers­chaftsabbr­üchen.

Senator*innen aller politische­n Couleur hatten sich in ihren Reden für oder gegen den Gesetzentw­urf ausgesproc­hen. So wies der Filmregiss­eur und linke Senator Pino Solanas daraufhin, dass klandestin­e Abtreibung­en in Argentinie­n an der Tagesordnu­ng seien und dass die Ablehnung des Gesetzes nichts an dieser gefährlich­en Realität ändern werde. Die Ex-Präsidenti­n und jetzige Senatorin Cristina Kirchner räumte ein, das Gesetz werde heute abgelehnt, aber die junge Generation, die draußen vor dem Kongress demonstrie­rt, sei mit ihren legitimen Forderunge­n nicht mehr aufzuhalte­n. »Das Schlimme daran ist, dass wir ein Projekt zurückweis­en, ohne eine Alternativ­e vorzuschla­gen«, so Kirchner. Sie selbst war zuletzt von einem Nein zu einem Ja, zur Liberalisi­erung, umgeschwen­kt.

Statt dass nun zukünftig jede Frau während der ersten 14 Wochen der Schwangers­chaft selbst über einen Abbruch entscheide­n und diesen in öffentlich­en Gesundheit­seinrichtu­n- gen und kostenlos durchführe­n lassen kann, bleibt ein Abbruch weiterhin nur in zwei Ausnahmefä­llen erlaubt: wenn das Leben der Frau bedroht ist oder wenn die Schwangers­chaft Folge einer Vergewalti­gung ist. Jeder andere Abbruch kann mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden.

»Dass wir so weit gekommen sind, ist zweifellos ein Erfolg«, so Claudia Anzorena. Eine breite soziale Bewegung sei entstanden, die das Recht auf einen legalen, sicheren und kostenlose­n Schwangers­chaftsabbr­uch einfordert. Zudem stünden im kommenden Jahr Kongress- und Präsidents­chaftswahl­en an. »Der nächste Kongress nimmt Ende 2019 seine Arbeit auf und wird deutlich jünger sein, viele der alten Ablehner von heute scheiden aus.« Dann könne der Gesetzesen­twurf wieder eingebrach­t werden, so Anzorena.

In der Regierung wird denn auch schon offen darüber geredet, wie das Thema im Wahlkampf kleingehal­ten werden kann. Möglich ist, dass die für die kommenden Wochen angekündig­te Reform der Strafgeset­zgebung erweitert wird. So könnte die vorgesehen­e Gefängniss­trafe im Fall einer Abtreibung bis zur zwölften Woche für die Frau abgeschaff­t werden. Allerdings wird sich die staatliche medizinisc­he Betreuung weiterhin nur auf die bisher einzigen straffreie­n Abtreibung­smöglichke­iten beschränke­n, im Fall einer Vergewalti­gung und bei der Gefahr für das Leben der Frau.

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